Exzeß und Fraktur des Anderen.
Die Braut, die Junggesellen und ihre Zeugen
- Drei (Wunsch)szenen -
Bernini: Die Ekstasen der Hl. Theresa; Freud: Der Traum von Irmas Injektion;
Duchamp: Das Große Glas - La mariée mise à nu par ses
célibataires, même.
VIII
Astrid Nettling
artefact text
and translation
Cologne, Germany
Von jedem, der fasziniert ist, läßt sich
sagen,
daß er kein reales Objekt, keine wirkliche Figur wahrnimmt,
denn was er sieht, gehört nicht der Welt der Wirklichkeit,
sondern dem unbestimmten Bereich der Faszination an.
Maurice Blanchot
Ce sont les regardeurs qui font le tableau.
Marcel Duchamp
Version 1.0 April 1992
Inhaltsverzeichnis
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VIII
-
Drei Doktorenkollegen figurieren im Traum von Irmas Injektion als (Augen)zeugen.
Eiligst herbeigerufen durch die Not des Träumers an dem Krisispunkt
des Traums - seine Sichtigkeit drohte zu schwinden, das Aufgehen des "Es
zeigt" des Traums schien durch die Annäherung an das Reale gefährdet
-, sichern sie in ihrer Augenzeugenschaft seine Sichtigkeit. Der Moment
der medusenhaften Erstarrung konvertiert in den Augenblick der Zeugenschaft.
-
Dr. M., der erste der Augenzeugen (autoptes), wiederholt die persönliche
Inaugenscheinnahme (Autopsie) von Irma durch den Träumer - "Ich rufe
schnell Dr. M. hinzu, der die Untersuchung wiederholt und bestätigt".
Moment einer Retardierung, das Ganze noch einmal, in einer Verspätung
rekapituliert sich das Ereignis, indem es in die Dimension der Zeugenschaft
eingerückt wird. Zuerst noch erscheint der Zeuge mit seinem Gegenüber
- "Sie sieht bleich und gedunsen aus" - wie durch Mimesis verbunden, eine
problematische Nähe zum Geschauten - "Dr. M. sieht ganz anders aus
als sonst; er ist sehr bleich und hinkt, ist am Kinn bartlos". Drohung
einer Zeugenschaft, eines Martyriums, bei dem der Zeuge mit seinem Leib
für sein Begehren zu-wissen einstehen muß. Martyr, martys
bedeutete ursprünglich einfach Zeuge, erst später wird es zum
Märtyrer als jemand, der mit seinem Leib, seinem Blut den Glauben
an Gott bezeugt.
-
Eine pathetische Zeugenschaft, wie sie auch die "weibliche" Hysterie auszuzeichnen
scheint in ihrem leibhaften Erleiden. Doch die Hysterikerin agiert ihren
fundamentalen Unglauben, bezeugt die tiefste Sinnlosigkeit des Exzesses
mit ihrem Pathos ver-rückt zu sein. Dies ihr häretisches Moment,
ihre Reserve gegenüber allen "Lösungen". Ganz ähnlich wurde
auch die mystische Ekstase mit dem Verdacht der Häresie konfrontiert.
In ihrer Sinn(en)losigkeit, ihrem Außer-sich-sein bringt sie keine
Distanz zu einer Diskrimination auf, sie ist Ausdruck der höchsten
Gnade Gottes oder das trügerische Blendwerk teuflischer Mächte,
das Höchste, das Tiefste.
-
Die (Augen)Zeugenschaft, wie sie sich auf Seiten des "Männlichen"
differenziert, ist geregelt durch den Bezug zum Sehen und Wissen. Der Augenzeuge
muß, was er sieht, feststellen, es dient als Beweis danach, stellt
die Spuren sicher, den Niederschlag (hypostasis). "Mein Freund Otto
steht jetzt auch neben ihr, und Freund Leopold perkutiert sie über
dem Leibchen." Dr. M., Leopold und Otto bilden sogleich ein beratendes
Doktorenkonzilium, die Augenzeugen befinden über das autopsierte Objekt
Irma, geben Zeugnis von dem "männlichen" Begehren - dem Begehren der
Junggesellen - zu sehen und zu wissen. Der Traum entfernt sich immer mehr
von der Sichtigkeit und seiner libidinösen Verankerung in einem "Es
zeigt", dreht sich in die Dimension des Symbolischen, der Sprache hinein
- "Trimethylamin (dessen Formel ich fettgedruckt vor mir sehe)" -, die
chemische Formel als der Indikator seines bevorstehenden Endes und des
Erwachens des Träumers.
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Das Erwachen hat den Traum immer schon in die Dimension des Erinnerten
gehoben, dem Horizont des wachen Ichbewußtseins unterstellt, ihn
mithin (re)präsentiert, (wieder)erzählt. Den manifesten Traumtext
erhält das Ich als Bericht eines Geschehens, transformiert in ein
anderes Medium - der Sprache. Verspätet, als eine Verzögerung
in Sprache, gibt der Traumtext Zeugnis von einem Einfall, dessen Spur sich
auseinandergelegt hatte in die Statt des Traums und ihrer libidinösen
Spannung. Er bezeugt ein Geschehen, dessen Spuren das Ich auf dem "Schauplatz"
des Traums wohl zu ent-ziffern sucht, es aber gewahren muß, daß
seine Zeugenschaft eine Nachträglichkeit ins Werk setzt, den Abstand
und die Spanne eines après coup, der sich nicht über
eine potentielle Anwesenheit öffnet. Aus diesem Grunde findet das
Ich mit Hilfe des Traumtextes und seiner Auslegung keinen Zugang zu einem
unverstellten Sinn, sondern es schreibt sich fort, schiebt jedes Ankommen
hinaus, wiederholt und bestätigt die Differenz.
-
Der Text wiederholte, er entfaltete sich als eine (Text)bewegung, die sich
anschloß an einen komplexen Mechanismus, der ein Binnenverhältnis
reguliert, das Bild und Schrift in ein Verhältnis zueinander setzt
und beide zugleich auseinandersetzt, dabei auf ihre Fraktur zurückkommt
und sie erneuert. Die Bewegung des Anschließens setzte den Mechanismus
(wieder) in Gang, der über die Binnenspannung von Text und Bild hinaus
durch ein Außen geführt wird, ein Außerhalb-der-Szene,
dessen Resonanz der Text zu wiederholen suchte. Rekapitulation eines Mechanismus,
der wesentlich dadurch funktioniert, daß etwas nicht sich in Szene
setzen läßt, vielmehr Bild und Schrift es verfehlen, zu spät
kommen oder ihr Ungenügen erfahren.
Anmerkungen VIII
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