Exzeß und Fraktur des Anderen.

Die Braut, die Junggesellen und ihre Zeugen
- Drei (Wunsch)szenen - 
Bernini: Die Ekstasen der Hl. Theresa; Freud: Der Traum von Irmas Injektion; Duchamp: Das Große Glas - La mariée mise à nu par ses célibataires, même.


VIII


Astrid Nettling


artefact text and translation
Cologne, Germany



Version 1.0 April 1992

Inhaltsverzeichnis


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    VIII

  1. Drei Doktorenkollegen figurieren im Traum von Irmas Injektion als (Augen)zeugen. Eiligst herbeigerufen durch die Not des Träumers an dem Krisispunkt des Traums - seine Sichtigkeit drohte zu schwinden, das Aufgehen des "Es zeigt" des Traums schien durch die Annäherung an das Reale gefährdet -, sichern sie in ihrer Augenzeugenschaft seine Sichtigkeit. Der Moment der medusenhaften Erstarrung konvertiert in den Augenblick der Zeugenschaft.
  2. Dr. M., der erste der Augenzeugen (autoptes), wiederholt die persönliche Inaugenscheinnahme (Autopsie) von Irma durch den Träumer - "Ich rufe schnell Dr. M. hinzu, der die Untersuchung wiederholt und bestätigt". Moment einer Retardierung, das Ganze noch einmal, in einer Verspätung rekapituliert sich das Ereignis, indem es in die Dimension der Zeugenschaft eingerückt wird. Zuerst noch erscheint der Zeuge mit seinem Gegenüber - "Sie sieht bleich und gedunsen aus" - wie durch Mimesis verbunden, eine problematische Nähe zum Geschauten - "Dr. M. sieht ganz anders aus als sonst; er ist sehr bleich und hinkt, ist am Kinn bartlos". Drohung einer Zeugenschaft, eines Martyriums, bei dem der Zeuge mit seinem Leib für sein Begehren zu-wissen einstehen muß. Martyr, martys bedeutete ursprünglich einfach Zeuge, erst später wird es zum Märtyrer als jemand, der mit seinem Leib, seinem Blut den Glauben an Gott bezeugt.
  3. Eine pathetische Zeugenschaft, wie sie auch die "weibliche" Hysterie auszuzeichnen scheint in ihrem leibhaften Erleiden. Doch die Hysterikerin agiert ihren fundamentalen Unglauben, bezeugt die tiefste Sinnlosigkeit des Exzesses mit ihrem Pathos ver-rückt zu sein. Dies ihr häretisches Moment, ihre Reserve gegenüber allen "Lösungen". Ganz ähnlich wurde auch die mystische Ekstase mit dem Verdacht der Häresie konfrontiert. In ihrer Sinn(en)losigkeit, ihrem Außer-sich-sein bringt sie keine Distanz zu einer Diskrimination auf, sie ist Ausdruck der höchsten Gnade Gottes oder das trügerische Blendwerk teuflischer Mächte, das Höchste, das Tiefste.
  4. Die (Augen)Zeugenschaft, wie sie sich auf Seiten des "Männlichen" differenziert, ist geregelt durch den Bezug zum Sehen und Wissen. Der Augenzeuge muß, was er sieht, feststellen, es dient als Beweis danach, stellt die Spuren sicher, den Niederschlag (hypostasis). "Mein Freund Otto steht jetzt auch neben ihr, und Freund Leopold perkutiert sie über dem Leibchen." Dr. M., Leopold und Otto bilden sogleich ein beratendes Doktorenkonzilium, die Augenzeugen befinden über das autopsierte Objekt Irma, geben Zeugnis von dem "männlichen" Begehren - dem Begehren der Junggesellen - zu sehen und zu wissen. Der Traum entfernt sich immer mehr von der Sichtigkeit und seiner libidinösen Verankerung in einem "Es zeigt", dreht sich in die Dimension des Symbolischen, der Sprache hinein - "Trimethylamin (dessen Formel ich fettgedruckt vor mir sehe)" -, die chemische Formel als der Indikator seines bevorstehenden Endes und des Erwachens des Träumers.
  5. Das Erwachen hat den Traum immer schon in die Dimension des Erinnerten gehoben, dem Horizont des wachen Ichbewußtseins unterstellt, ihn mithin (re)präsentiert, (wieder)erzählt. Den manifesten Traumtext erhält das Ich als Bericht eines Geschehens, transformiert in ein anderes Medium - der Sprache. Verspätet, als eine Verzögerung in Sprache, gibt der Traumtext Zeugnis von einem Einfall, dessen Spur sich auseinandergelegt hatte in die Statt des Traums und ihrer libidinösen Spannung. Er bezeugt ein Geschehen, dessen Spuren das Ich auf dem "Schauplatz" des Traums wohl zu ent-ziffern sucht, es aber gewahren muß, daß seine Zeugenschaft eine Nachträglichkeit ins Werk setzt, den Abstand und die Spanne eines après coup, der sich nicht über eine potentielle Anwesenheit öffnet. Aus diesem Grunde findet das Ich mit Hilfe des Traumtextes und seiner Auslegung keinen Zugang zu einem unverstellten Sinn, sondern es schreibt sich fort, schiebt jedes Ankommen hinaus, wiederholt und bestätigt die Differenz.
  6. Der Text wiederholte, er entfaltete sich als eine (Text)bewegung, die sich anschloß an einen komplexen Mechanismus, der ein Binnenverhältnis reguliert, das Bild und Schrift in ein Verhältnis zueinander setzt und beide zugleich auseinandersetzt, dabei auf ihre Fraktur zurückkommt und sie erneuert. Die Bewegung des Anschließens setzte den Mechanismus (wieder) in Gang, der über die Binnenspannung von Text und Bild hinaus durch ein Außen geführt wird, ein Außerhalb-der-Szene, dessen Resonanz der Text zu wiederholen suchte. Rekapitulation eines Mechanismus, der wesentlich dadurch funktioniert, daß etwas nicht sich in Szene setzen läßt, vielmehr Bild und Schrift es verfehlen, zu spät kommen oder ihr Ungenügen erfahren.

    1. Anmerkungen VIII


    2. Back


    3. artefact