Exzeß und Fraktur des Anderen.
Die Braut, die Junggesellen und ihre Zeugen
- Drei (Wunsch)szenen -
Bernini: Die Ekstasen der Hl. Theresa; Freud: Der Traum von Irmas Injektion;
Duchamp: Das Große Glas - La mariée mise à nu par ses
célibataires, même.
I
Astrid Nettling
artefact text
and translation
Cologne, Germany
Von jedem, der fasziniert ist, läßt sich
sagen,
daß er kein reales Objekt, keine wirkliche Figur wahrnimmt,
denn was er sieht, gehört nicht der Welt der Wirklichkeit,
sondern dem unbestimmten Bereich der Faszination an.
Maurice Blanchot
Ce sont les regardeurs qui font le tableau.
Marcel Duchamp
Version 1.0 April 1992
Inhaltsverzeichnis
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I
-
Der folgende Text wiederholt. Er entfaltet sich als eine (Text)bewegung,
die sich anschließt an einen komplexen Mechanismus, der ein Binnenverhältnis
reguliert, das Bild und Schrift in ein Verhältnis zueinander setzt
und beide zugleich auseinandersetzt, dabei auf ihre Fraktur zurückkommt,
sie erneuert. Die Bewegung des Anschließens, als die sich der Text
einbringt, setzt einen Mechanismus (wieder) in Gang, der über diese
Binnenspannung von Text und Bild hinaus durch ein Außen geführt
wird, ein Außerhalb-der-Szene - eine weitere, den Rand markierende
Fraktur kommt ins Spiel -, dessen Resonanz der Text wiederholt - er nimmt
auf, fängt wieder an und bezeugt -, indem er sich anfügt an einen
Schauplatz, einen Ort der Darstellung, welcher übertroffen, enteignet
und beschnitten wird durch einen Exzeß, durch etwas, was über
jedes Maß hinausgeht, jedes Maß der Darstellung übersteigt.
Denn der Mechanismus funktioniert wesentlich dadurch, daß etwas nicht
sich in Szene setzen läßt, vielmehr Bild und Schrift es verfehlen,
zu spät kommen oder ihr Ungenügen erfahren. "Man hätte,
entgegen der Etymologie, in diesem Exzeß drei lateinische Verben
zusammenzuhören: ex-cedere, übertreffen, herausgehen, ex-cidere
(von cadere), herausfallen aus, einer Sache enteignet werden, und ex-cidere
(von caedere), durch einen Einschnitt abtrennen, beschneiden". [1]
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Die erste Szene:
Die Capella Cornaro der Kirche Santa Maria della Vittoria in Rom. Der
Barock-Bildhauer Bernini setzt dort in Szene, was er Die Ekstasen der
Heiligen Theresa (1647-1652) nennt. Die zentrale Figurengruppe des
Engels und der Heiligen im Augenblick ihrer Verzückung. Sie wird seitlich
begrenzt und eingefaßt von einer Gruppe von (Augen)Zeugen - den sogenannten
Stiftern in ihren Logen -, die dem Geschehen zum größten Teil
abgewandt sind - der Exzeß bleibt außerhalb der Szene. Ein
Zeuge ist vertieft in die Lektüre des Libro de la vida (1565),
das Buch, das Theresa von Avila niederschrieb als Versuch einer Aufzeichnung
dessen, was sich der Schrift entzieht - es gibt etwas zu lesen - und das
Bernini in eine Darstellung bringt - es gibt etwas zu sehen. [2]
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Die zweite Szene:
"Eine große Halle - viele Gäste, die wir empfangen." Aufriß
der Szenerie des Initialtraums Irmas Injektion von Freud, geträumt
in der Nacht vom 23./24. Juli 1895. Die agierenden Hauptfiguren sind Irma
- eine (hysterische) Patientin Freuds -, der Träumer selbst und drei
(Augen)Zeugen - drei Doktorenkollegen von Freud. Freud träumt zu der
Zeit "planmäßig", um dem Geheimnis des Traums auf die Spur zu
kommen, es endgültig zu "enthüllen". Das "Es zeigt" des Traums
ist somit auch in Szene gesetzt für Die Traumdeutung (1900),
das Buch, in dem Freud seinen Traum niederschreibt und auslegt - es gibt
etwas zu lesen. Was gibt es dort im Traum zu sehen, immer schon der Rücksicht
auf Darstellbarkeit geschuldet? Welcher Exzeß bleibt verdeckt, abgeschirmt
allen Enthüllungsversuchen zum Trotz?
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Die dritte Szene:
Das Große Glas wurde von Duchamp 1923 definitiv unvollendet
gelassen. Es stellt einen auf eine transparente Glasfläche projizierten
komplexen Mechanismus vor - er besteht aus dem oberen Bereich der Braut
und dem davon abgetrennten, unteren Bereich der Junggesellen und der Okulisten-Zeugen.
Das Große Glas ähnelt einem Konstruktionsschema, mißachtet
die Rücksicht auf Darstellbarkeit für das Sehen in einem gewissen
Grade - es gibt nichts zu sehen. Es gibt etwas zu lesen - die Aufzeichnungen
der Grünen Schachtel bilden einen Kommentar zum Objekt, mit
dem der Leser die Szene des Großen Glases in eine Sinnfolge
von Bildern bringen, den Mechanismus aktivieren kann - es gibt etwas zu
sehen. La mariée mise à nu exekutiert mehr eine Entblößung
als eine "Enthüllung", sie entmystifiziert und (zer)stört die
Ordnung des Sehens und des Sinns. In dieser Bedeutung zeugt sie von einem
Exzeß und bezeugt dessen Resonanz innen als einen Mechanismus, den
Duchamp als den einer Junggesellenmaschine (machine célibataire)
charakterisierte.[3]
Anmerkungen I
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Jean-Francois Lyotard, Heidegger und "die Juden", Wien 1988, S. 28.Back
-
"Ich sah neben mir, gegen meine linke Seite zu, einen Engel in leiblicher
Gestalt. (...) Er war nicht groß, sondern klein und sehr schön.
Sein Angesicht war so entflammt, daß er mir als einer der erhabensten
Engel vorkam, die ganz in Flammen zu stehen scheinen. (...) In den Händen
des mir erschienenen Engels sah ich einen langen goldenen Wurfpfeil, und
an der Spitze des Eisens schien mir ein wenig Feuer zu sein. Es kam mir
vor, als durchbohre er mit dem Pfeile einigemale mein Herz bis aufs Innerste,
und wenn er ihn wieder herauszog, war es mir, als zöge er diesen innersten
Herzteil mit heraus. Als er mich verließ, war ich ganz entzündet
von feuriger Liebe zu Gott. Der Schmerz dieser Verwundung war so groß,
daß er mir die erwähnten Klageseufzer auspreßte; aber
auch die Wonne, die dieser ungemeine Schmerz verursachte war so überschwenglich,
daß ich unmöglich von ihm frei zu werden verlangen noch mit
etwas geringerem mich begnügen konnte als mit Gott. Es ist dies kein
körperlicher, sondern ein geistiger Schmerz, wiewohl auch der Leib,
und zwar nicht im geringen Maße, an ihm teilnimmt." Sämtliche
Schriften der hl. Theresia von Jesu, Erster Band: Leben von ihr selbst
beschrieben, Stuttgart 1952, S. 281. Back
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vgl. zum Begriff der "Junggesellenmaschine" den Katalog "Junggesellenmaschinen/Les
Maschines Célibataires", hrsg. von Jean Clair, Harald Szeemann,
zur gleichnamigen Ausstellung, Venezia-Martellago, 1975. Back
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