Exzeß und Fraktur des Anderen.

Die Braut, die Junggesellen und ihre Zeugen
- Drei (Wunsch)szenen - 
Bernini: Die Ekstasen der Hl. Theresa; Freud: Der Traum von Irmas Injektion; Duchamp: Das Große Glas - La mariée mise à nu par ses célibataires, même.


I


Astrid Nettling


artefact text and translation
Cologne, Germany



Version 1.0 April 1992

Inhaltsverzeichnis


Copyright (c) 1991-1992 by Astrid Nettling, all rights reserved. This text may be used and shared in accordance with the fair-use provisions of U.S. copyright law, and it may be archived and redistributed in electronic form, provided that the author is notified and no fee is charged for access. Archiving, redistribution, or republication of this text on other terms, in any medium, requires the consent of the author. 

    I

  1. Der folgende Text wiederholt. Er entfaltet sich als eine (Text)bewegung, die sich anschließt an einen komplexen Mechanismus, der ein Binnenverhältnis reguliert, das Bild und Schrift in ein Verhältnis zueinander setzt und beide zugleich auseinandersetzt, dabei auf ihre Fraktur zurückkommt, sie erneuert. Die Bewegung des Anschließens, als die sich der Text einbringt, setzt einen Mechanismus (wieder) in Gang, der über diese Binnenspannung von Text und Bild hinaus durch ein Außen geführt wird, ein Außerhalb-der-Szene - eine weitere, den Rand markierende Fraktur kommt ins Spiel -, dessen Resonanz der Text wiederholt - er nimmt auf, fängt wieder an und bezeugt -, indem er sich anfügt an einen Schauplatz, einen Ort der Darstellung, welcher übertroffen, enteignet und beschnitten wird durch einen Exzeß, durch etwas, was über jedes Maß hinausgeht, jedes Maß der Darstellung übersteigt. Denn der Mechanismus funktioniert wesentlich dadurch, daß etwas nicht sich in Szene setzen läßt, vielmehr Bild und Schrift es verfehlen, zu spät kommen oder ihr Ungenügen erfahren. "Man hätte, entgegen der Etymologie, in diesem Exzeß drei lateinische Verben zusammenzuhören: ex-cedere, übertreffen, herausgehen, ex-cidere (von cadere), herausfallen aus, einer Sache enteignet werden, und ex-cidere (von caedere), durch einen Einschnitt abtrennen, beschneiden". [1]

  2.  

     

  3. Die erste Szene:

  4. Die Capella Cornaro der Kirche Santa Maria della Vittoria in Rom. Der Barock-Bildhauer Bernini setzt dort in Szene, was er Die Ekstasen der Heiligen Theresa (1647-1652) nennt. Die zentrale Figurengruppe des Engels und der Heiligen im Augenblick ihrer Verzückung. Sie wird seitlich begrenzt und eingefaßt von einer Gruppe von (Augen)Zeugen - den sogenannten Stiftern in ihren Logen -, die dem Geschehen zum größten Teil abgewandt sind - der Exzeß bleibt außerhalb der Szene. Ein Zeuge ist vertieft in die Lektüre des Libro de la vida (1565), das Buch, das Theresa von Avila niederschrieb als Versuch einer Aufzeichnung dessen, was sich der Schrift entzieht - es gibt etwas zu lesen - und das Bernini in eine Darstellung bringt - es gibt etwas zu sehen. [2]
     
     
  5. Die zweite Szene:

  6. "Eine große Halle - viele Gäste, die wir empfangen." Aufriß der Szenerie des Initialtraums Irmas Injektion von Freud, geträumt in der Nacht vom 23./24. Juli 1895. Die agierenden Hauptfiguren sind Irma - eine (hysterische) Patientin Freuds -, der Träumer selbst und drei (Augen)Zeugen - drei Doktorenkollegen von Freud. Freud träumt zu der Zeit "planmäßig", um dem Geheimnis des Traums auf die Spur zu kommen, es endgültig zu "enthüllen". Das "Es zeigt" des Traums ist somit auch in Szene gesetzt für Die Traumdeutung (1900), das Buch, in dem Freud seinen Traum niederschreibt und auslegt - es gibt etwas zu lesen. Was gibt es dort im Traum zu sehen, immer schon der Rücksicht auf Darstellbarkeit geschuldet? Welcher Exzeß bleibt verdeckt, abgeschirmt allen Enthüllungsversuchen zum Trotz?
     
     
  7. Die dritte Szene:

  8. Das Große Glas wurde von Duchamp 1923 definitiv unvollendet gelassen. Es stellt einen auf eine transparente Glasfläche projizierten komplexen Mechanismus vor - er besteht aus dem oberen Bereich der Braut und dem davon abgetrennten, unteren Bereich der Junggesellen und der Okulisten-Zeugen. Das Große Glas ähnelt einem Konstruktionsschema, mißachtet die Rücksicht auf Darstellbarkeit für das Sehen in einem gewissen Grade - es gibt nichts zu sehen. Es gibt etwas zu lesen - die Aufzeichnungen der Grünen Schachtel bilden einen Kommentar zum Objekt, mit dem der Leser die Szene des Großen Glases in eine Sinnfolge von Bildern bringen, den Mechanismus aktivieren kann - es gibt etwas zu sehen. La mariée mise à nu exekutiert mehr eine Entblößung als eine "Enthüllung", sie entmystifiziert und (zer)stört die Ordnung des Sehens und des Sinns. In dieser Bedeutung zeugt sie von einem Exzeß und bezeugt dessen Resonanz innen als einen Mechanismus, den Duchamp als den einer Junggesellenmaschine (machine célibataire) charakterisierte.[3]

      Anmerkungen I


    1. Jean-Francois Lyotard, Heidegger und "die Juden", Wien 1988, S. 28.Back

    2. "Ich sah neben mir, gegen meine linke Seite zu, einen Engel in leiblicher Gestalt. (...) Er war nicht groß, sondern klein und sehr schön. Sein Angesicht war so entflammt, daß er mir als einer der erhabensten Engel vorkam, die ganz in Flammen zu stehen scheinen. (...) In den Händen des mir erschienenen Engels sah ich einen langen goldenen Wurfpfeil, und an der Spitze des Eisens schien mir ein wenig Feuer zu sein. Es kam mir vor, als durchbohre er mit dem Pfeile einigemale mein Herz bis aufs Innerste, und wenn er ihn wieder herauszog, war es mir, als zöge er diesen innersten Herzteil mit heraus. Als er mich verließ, war ich ganz entzündet von feuriger Liebe zu Gott. Der Schmerz dieser Verwundung war so groß, daß er mir die erwähnten Klageseufzer auspreßte; aber auch die Wonne, die dieser ungemeine Schmerz verursachte war so überschwenglich, daß ich unmöglich von ihm frei zu werden verlangen noch mit etwas geringerem mich begnügen konnte als mit Gott. Es ist dies kein körperlicher, sondern ein geistiger Schmerz, wiewohl auch der Leib, und zwar nicht im geringen Maße, an ihm teilnimmt." Sämtliche Schriften der hl. Theresia von Jesu, Erster Band: Leben von ihr selbst beschrieben, Stuttgart 1952, S. 281. Back

    3. vgl. zum Begriff der "Junggesellenmaschine" den Katalog "Junggesellenmaschinen/Les Maschines Célibataires", hrsg. von Jean Clair, Harald Szeemann, zur gleichnamigen Ausstellung, Venezia-Martellago, 1975. Back


    4. artefact