Exzeß und Fraktur des Anderen.
Die Braut, die Junggesellen und ihre Zeugen
- Drei (Wunsch)szenen -
Bernini: Die Ekstasen der Hl. Theresa; Freud: Der Traum von Irmas Injektion;
Duchamp: Das Große Glas - La mariée mise à nu par ses
célibataires, même.
VI
Astrid Nettling
artefact text
and translation
Cologne, Germany
Von jedem, der fasziniert ist, läßt sich
sagen,
daß er kein reales Objekt, keine wirkliche Figur wahrnimmt,
denn was er sieht, gehört nicht der Welt der Wirklichkeit,
sondern dem unbestimmten Bereich der Faszination an.
Maurice Blanchot
Ce sont les regardeurs qui font le tableau.
Marcel Duchamp
Version 1.0 April 1992
Inhaltsverzeichnis
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VI
-
Bernini hat dieses Spiel von Reserve und Zum-Vorschein-kommen in der Gestalt
der jungfräulichen Theresa zur Darstellung gebracht. Aus der schweren
Dichte ihres Gewandes, das jede lebendige, empfindende Körperlichkeit
vollständig bedeckt und zurückhält - "Theresa liegt unter
mehreren Schichten auflastenden Stoffs, und weil der Mulde, der Konkaven
jede Stelle überlassen zu sein scheint, wirkt der Organismus wie eingesunken,
zurückgezogen, ohne pulsierendes Leben, gleichsam des Atems beraubt."[1]-,
läßt er ihr Antlitz ex-sistieren. In sich gekehrt, reserviert,
dem Genießen hingegeben, doch auch wie nackt, entblößt
in seinem puren Genießen - den geschlossenen Augen und dem geöffneten
Mund - bezeugt es jenes Außer sich inmitten seiner selbst. Extremum
der Nähe Gottes, höchstes Maß des Genusses von Gottes Gnaden:
"Hier aber ... merkt man gar nichts von einer Arbeit, sondern hat nur Genuß,
ohne jedoch zu verstehen, was man genießt. ... Alle Sinne sind so
sehr in diesem Genuß verschlungen, daß es keinem von ihnen
möglich ist, sich, sei es innerlich oder äußerlich, mit
etwas anderem zu beschäftigen."[2]
-
Es ist eine Zeugenschaft, die über den somatisierten Leib verläuft
- in einer frühen Bedeutung heißt soma auch der tote
Körper, der Leichnam. So ist die Ekstase mit einem merkwürdigen
Absterben und Starrwerden des Körpers verbunden, die Seele tritt heraus,
sie wird gleichsam "im Flug herausgerissen" (raptus), in das Exterior
der Vereinigung mit Gott.[3]
Schon Charcot hatte eine Ähnlichkeit des Ablaufs der mystischen Ekstase
mit der Inszenierung der (weiblichen) Hysterie festgestellt. Ohnmacht,
Verkrampfung, Starrwerden, Lähmung, Aphasie - eine Hypersomatisierung
des Leibs, Mimesis an einen organlosen Körper als einen Beständigen.
Es ist viel auf das inszenatorische Moment der Hysterie hingewiesen worden,
sie ist eine Krankheit sine materia, reine Oberfläche, eine
Krankheit ohne Ort, ohne materielles Substrat. Ihre Ek-sistenz ist grundlos,
ohne Ursache, das hysterische Symptom mithin eine erblühende Metapher.
Wie diese (ver)dichtet sie, kommt ihre Wirkweise als (Ver)deckung, Kaschierung
der Abwesenheit eines darunterliegenden Realen zum Vorschein. An dieser
fundamentalen Lücke, der leeren Statt, situiert sich die (weibliche)
Hysterie, setzt dort den Zug der meta-phora gleichsam pur ins Werk,
verdeckt und verhehlt jene Ausständigkeit des Seins mit ihrem Fleisch,
dadurch daß sie den Körper zum Phallus werden läßt.
In den Symptomen der Hysterie inszeniert sich die Braut als Typus "Weiblicher
Gehenkter" (Duchamp), führt "medusenhafte Erstarrung" an sich selbst
vollzogen vor - Kastration und Leugnung der Kastration ineins. Dies ist
die Seite der Braut, so sie das Außen, den exzedierten Teil abdeckt
durch ihren phallisierten Körper als Versuch, den Signifikanten par
excellence zu inkarnieren.
-
Auch Irma konfrontiert Freud direkt mit der Oberflächigkeit der Hysterie,
seiner Angst vor "etwas Organischem", aber auch dem Wunsch nach einer Hypostase,
d.h. einer Stütze, die sich darunter aufstellt (hypostasis),
gegen die bloße Erscheinung. Im Traum ist von einer "Lösung"
die Rede, etwas, was sich ausscheidet in einer Flüssigkeit und als
Niederschlag (hypostasis) sich manifestiert, eine Lösung als
Grundlage, welche das sich entziehende, flächige Wesen der Hysterie
feststellt. Freud wird eine Technik entwickeln, die das visuelle Moment
der Hysterie, ihr demonstratives "Zeigen", durch eine Hermeneutik des Sinns
der Symptome transformiert, eine Hermeneutik der Verkennungsstruktur der
Neurose, welche ihre Verrückung aus dem Horizont des Sinns durch Sprechen
korrigiert. Der gleiche Medienwechsel wurde auch durch die Institution
der Beichte vollzogen, den Beichtigern, vor denen Theresa von Avila ihre
Visionen in Sprache fassen mußte, wie auch durch die Niederschrift
des Libro de la vida, das für die Inquisition bestimmt war,
um damit dem Vorwurf der Häresie zu begegnen.
-
Freuds Traum führt die Braut vor. Irma, die junge, attraktive Witwe,
erscheint zu Beginn als die notorisch klagende, unzufriedene Hysterika.
Ihre Unzufriedenheit inszeniert sich als Reserve - sie reserviert sich
gegenüber der "Lösung" -, Irma übernimmt im Traum die Reserve
der Skepsis. "Unter ihnen Irma, die ich sofort beiseite nehme, um ...,
ihr Vorwürfe zu machen, daß sie die "Lösung" noch nicht
akzeptiere." Es ist Freuds eigene Skepsis, sein Zweifel an der Richtigkeit
der Sache, der Zweifel des Wissenschaftlers ob der fehlenden Unterlage.
Seine Skepsis situiert sich auf der Seite des Begehrens-zu-wissen, führt
in die reflexive Dimension der Junggesellen und der (Augen)zeugen - des
männlichen Personals der Szene. So macht Freud sie - die Skepsis,
Irma - schnell mundtot, im weiteren Verlauf ist Irma nur Mund, also pars
pro toto - ihr geöffneter Mund bildet gleichsam die Spitze, das Haupt
ihres "eingeschnürten", vertikalisierten Leibs - "Wenn du wüßtest,
was ich für Schmerzen jetzt habe im Hals, Magen und Leib, es schnürt
mich zusammen" - und führt direkt in das Tiefste, in das Extremum
der Annäherung an das Reale, des undarstellbaren Außen - die
ausgedehnten weißgrauen Schorfe. "Medusenhaupt" - doch eher noch
medusenhafte Erstarrung, das Apotropaion des phallisierten Leibs montiert
gegen die Kopflosigkeit - das Loch im Realen, den Ex-zeß. Denn Irma
scheint entlang der starren Wirbelsäule festgemacht - Hals, Leib,
Magen -, die sie als eine hypostasis, als unsichtbare Stütze
hält. Sie ist der "Weibliche Gehenkte", bei dem sich am Ende des Traums
das Signifikat "Trimethylamin" ausscheidet, ein Niederschlag unten, der
jedoch oben in und aus dem Logos strömt:
Das Tiefe ist die Höhe. Es mündet ins Hohe, den Mund präzise,
wo sich der Nous "inkarniert", der Logos, und der tiefgründig sagt:
es gibt nur eine Libido, also keine Differenz, noch weniger Gegensatz in
ihr des Männlichen und des Weiblichen, im übrigen ist sie männlich
von Natur aus. Der "Grund dieses nie erhellten Zugs" kann wirklich nur
"geahnt" werden: denn es gibt keinen Vernunftgrund für diesen Zug,
er ist die Vernunft. Vor, während und seit Freud. Der Zug gezogen
von der Vernunft. Durch sie, für sie, unter ihr. In der sogenannten
Logik des "Kessels" ... wird die Vernunft immer Recht haben. Von selbst.
Sie vernimmt sich. "Die Sprache spricht von selbst." Sie vernimmt sich
sagen, was sie nicht vernehmen kann.[4]
-
Dies die Seite der Braut, so sie die "Lösung" ausscheidet - das "Liebesbenzin"
(Duchamp) -, das sich kondensiert (verdichtet) in das Gewölk des Logos,
des Geistes. Aber zugleich behält sie eine Reserve gegenüber
der "Lösung", es bezieht die Hysterie ihren Widerstand aus einem Vorbehalt,
der sie an dem Extremum der Szene placiert, an dem Drehpunkt der Spannung,
wo "der Part des Logos mit der Heraufkunft des Begehrens konvergiert."[5]
Setzt sie zur einen Seite ihre "phallische" Maskerade ein, konterkariert
sie diese durch das Begehren, das die Maskerade als eine Ver-stellung vorführt
- die Hysterie mithin sine materia, reine Oberflächigkeit.
Was das hysterische Symptom verhehlt durch seinen metaphorischen Zug, dekuvriert
die Metonymie des Begehrens, indem sie für die Ausständigkeit
sorgt, an diesem Fehl des Seins als einem Beständigen sich hervorbringt.
-
Was der Traum nicht darstellt, was ihn jedoch immer schon führt und
in Bewegung hält, ist diese Seite des Begehrens der Braut, die den
Traum über sein Erblühen hinaus gegen sein Außen trägt.
Es ist ein Geführtwerden durch das Andere, das, da es sich entzieht
und den Entzug offenbar werden läßt, auf die Spur des Begehrens
führt, das für dieses Ausstehen einsteht. Es verweist auf die
Produktion Traum nicht als eine "Wunscherfüllung", wie es Freud bezeichnet,
eher auf die verrückende Dynamik des Begehrens, Wunsch, der sich gerade
nicht erfüllt, nicht ankommt. In dem Maße der Wunsch als ein
Gerichtet-sein auf einen Ort - den Platz der Braut, Irma als Wunschziel,
den Traum als "Wunscherfüllung" - sich einräumt, so dekonstruiert
das Begehren jeden Ort, entstellt ihn auf einen Ausstand hin - jenseits
aller Szenen insistiert der Exzeß wiederholt, in der Wiederholung,
ohne einen Platz zu besetzen. Die Funktion der Braut enthüllt, so
von ihr aus die Statt der Sichtigkeit eröffnet wird, die Wunsch-Dimension
des Träumers als eine vom Anderen getragene Statt. Anstelle des eigentlich
Ausstehenden ruft sich der Wunsch und seine "Wunschszene" als Reflex dieses
Anderen hervor, gibt er sich statt, indem er sich der Resonanz des Anderen
unterstellt, subiectum der Aura der "vierten" Dimension der Braut.
Die Braut als Ausgang und Wunschziel des Träumers spannt somit den
Spielraum auf, in dessen Spanne sich der Wunsch darlegt. Das "Es zeigt"
des Traums erblüht als diese Hypostase, in der sich der Träumer
ohne sein "Ich sehe" deponiert - niedergelegt, in Sicherheit gebracht,
die Waffen gestreckt -, dies bewirkt das eigentümlich Befriedigende
am Traum. Befriedigung des zölibatären Träumers draußen
in der Statt des Traums untergebracht zu sein, unter dem Blick, der auf
der Seite des Anderen imaginiert wird: "Heißt es nicht Befriedigung,
unter diesem Blick zu sein, ... unter diesem Blick, der uns einkreist und
der aus uns in erster Linie angeschaute Wesen macht, freilich ohne daß
uns dies angezeigt würde!"[6]
-
Jedoch der befremdende Einfall des Anderen, der verstörende Einbruch
der Differenz bleibt ausgestoßen, drängt ohne Bild und Schrift
- für diese Spur steht das Begehren der Braut in ihrem Begehren des
Anderen ein. In ihrer (hysterischen) Reserve gegenüber allen Situierungsversuchen
des Wunsches ek-sistiert sie als sich-entziehend. Es ist nicht zuletzt
dieses Begehren des Anderen, das den Genuß der Theresa ausmacht,
bei dem ihre Seele, der in das Außen gesetzte Teil ihrer selbst ein
Teil des Genusses Gottes wird - unio mystica, Genuß des Anderen,
Ekstase jenseits aller Bilder und Worte.
Anmerkungen VI
-
Hans Kauffmann, a.a.O., S. 150. Back
-
Sämtliche Schriften der hl. Theresia von Jesu, a.a.O., S. 162. Back
-
"(...) Die Ekstase dauert länger und macht sich mehr nach außen
hin bemerkbar; sie verkürzt allmählich das Atmen, so daß
man nicht mehr zu reden und die Augen zu öffnen vermag. (...) Es schwindet
nämlich auf eine mir unbegreifliche Weise die natürliche Wärme,
wenn die Ekstase erhaben ist. Es gibt in diesem Gebetszustand Stufen; und
wenn die Ekstase höherer Ordnung angehört, dann erstarren die
Hände und bleiben manchmal ausgespannt wie Balken. Der Leib bleibt
stehend oder knieend, wie ihn die Ekstase getroffen hat. Die Seele ist
so in Freude versunken über das Glück, das sie der Herr genießen
lassen will, daß es den Anschein hat, als ob sie den Leib ganz verlassen
und vergessen habe, ihn zu beleben." Sämtliche Schriften der hl. Theresia
von Jesu, a.a.O., S. 456. Back
-
Jacques Derrida, Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits,
2. Lieferung, Berlin 1987, S.265; vgl. dazu Jacques Lacan, Die Bedeutung
des Phallus, in: Schriften II, Olten 1975, S. 128ff. Back
-
Jacques Lacan, Die Bedeutung des Phallus, a.a.O., S. 128. Back
-
Jacques Lacan, Seminar XI, a.a.O., S. 81. Back
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