Exzeß und Fraktur des Anderen.
Die Braut, die Junggesellen und ihre Zeugen
- Drei (Wunsch)szenen -
Bernini: Die Ekstasen der Hl. Theresa; Freud: Der Traum von Irmas Injektion;
Duchamp: Das Große Glas - La mariée mise à nu par ses
célibataires, même.
IV
Astrid Nettling
artefact text
and translation
Cologne, Germany
Von jedem, der fasziniert ist, läßt sich
sagen,
daß er kein reales Objekt, keine wirkliche Figur wahrnimmt,
denn was er sieht, gehört nicht der Welt der Wirklichkeit,
sondern dem unbestimmten Bereich der Faszination an.
Maurice Blanchot
Ce sont les regardeurs qui font le tableau.
Marcel Duchamp
Version 1.0 April 1992
Inhaltsverzeichnis
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IV
-
Duchamps Großes Glas läßt den Betrachter reserviert.
Inmitten von Visualität - das Große Glas bietet dem Auge
etwas an - inszeniert es eine Reserve des Sehens, hält es das Sehen
zurück - es entfaltet sich zunächst kein Horizont des "Ich sehe".
Duchamp bezeichnet den Stil seines Bildes als "viszeral".[1]
Anders als eine Abstraktion, die von den Dingen etwas wegzieht - abstrahere
hat die Bedeutung von abziehen, trennen - und einen bestimmten Aspekt isoliert
und hervorhebt, geht Duchamps Stil unter die Haut der Dinge, (durch)bricht
er ihren Horizont, ihren Raum. Das Große Glas wendet sich
nicht an das Auge und das Sehen im Sinne des Netzhaut-Effekts, d.h. ein
vom Sehen und seinem Sehkreis aus aufgebautes Tableau, sondern Duchamp
setzt diesen Effekt aus, bewahrt eine Reserve zur optischen Szene, die
für die Tradition der Malerei so relevant wurde. Als Bild bleibt das
Große Glas ganz in der zweiten Dimension, hält sich dort
im Unterschied zur "Netzhautkunst", die eine Projektion der räumlichen
in die flächige Dimension darstellt, ist näher an der Flächigkeit
der Schrift als an der Dreidimensionalität des Sehens. Es gleicht
einem Konstruktionsschema, d.h. es ist der Ausführung, einem mettre-en-scène
durch den Betrachter vorbehalten. Diese Reserve des "Ich sehe" hat Duchamp
unterstrichen durch die Grüne Schachtel, eine lose, nicht-systematische
Notizen- und Zettelsammlung zum Großen Glas: "Und dieses Album
wollte ich dann dem 'Glas' beigesellen, man sollte es beim Betrachten des
Bildes konsultieren können, weil dieses nicht einfach, im ästhetischen
Sinne des Wortes, "angeschaut" werden sollte. Das Buch gehörte dazu,
man mußte beides gleichzeitig vor Augen haben. Denn die Verbindung
dieser beiden Objekte hob das mir so unsympathische "Netzhaut-Moment",
das optische Moment, auf."[2]
-
Die dritte Dimension wird reserviert, ausgesetzt - sekundär erst wird
das Große Glas den Horizont des "Ich sehe" hervorbringen,
dann, wenn der Betrachter sich situiert hat. In einer Verspätung -
Duchamp nennt es auch retard en verre, also "Verspätung im
Glas" - wird sich eine Szene eingrenzen und sich auf sich selbst hin geöffnet
haben. Ebenso wird in einer Brechung, wie etwas im Durchgang durch ein
Medium - etwa Glas - gebrochen wird, sich die Szene als Ablenkung, Refraktion
in einem Medium, dem des Sehens, organisiert haben. Das Verb frangere in
der Bedeutung von beugen, schwächen, entkräften, bändigen
- markiert auch den Aspekt von (Be)zähmung, wie etwa eine Kraft gebändigt
wird, in Schranken gehalten. "Blickzähmung" nennt Lacan die Wirkweise
der Malerei [3]
so, wie Duchamp ihre Tradition als "Netzhautmalerei" charakterisiert, d.h.
der Ordnung des Sehens unterworfen. Durch diese Brechung, die ein Anderes
beugt, ablenkt, in Schranken, hält etabliert sich ein Schauplatz der
Sichtigkeit. Es grenzt sich ein Horizont des Darstellbaren ein, der jedoch
zugleich von einem Außen getragen wird. Duchamp spricht von einer
nichtdarstellbaren "vierten Dimension", die die dritte Dimension verursacht:
Ich fand heraus, daß der Schatten eines dreidimensionalen Objekts
eine zweidimensionale Form konstituiert ... und schloß daraus, auf
analogischem Weg, daß die vierte Dimension ein Objekt mit drei Dimensionen
projizieren könne, d.h. daß alle dreidimensionalen Gegenstände,
die wir so arglos betrachten, Projektionen von uns unbekannten vierdimensionalen
Formen sind. Eine sophistische Argumentation zwar, aber doch im Bereich
des Möglichen. In diesem Geist schuf ich die Neuvermählte (la
mariée, die Braut, d.V.) im Großen Glas als Projektion einer
unsichtbaren vierdimensionalen Form. [4]
-
Das Tableau der Welt ist eine Projektion, also eine Abbildung mit ihrer
medialen Brechung, einer anderen Dimension, die sich entzieht in ein Außerhalb.
Die "vierte" Dimension muß ex-zediert bleiben, sie ist nur zu hypostasieren
und in Ansehung zu bringen über eine Fraktur, d.h. daß die Einrückung
des Horizonts des Sehens je immer nur retardiert und abgelenkt vonstatten
geht. Die Spanne der Aussetzung, der viszerale (Durch)bruch des Horizonts
legt die Statt des Sehens bloß und hält ihren Raum dekuvriert,
indem sie ihre reflexive Verfaßtheit aufdeckt, entblößt.
La mariée mise à nu entmystifiziert die Ordnung des
Sehens.
-
Diese vom Sehen entblößte Statt legt Duchamp vor. Vor dem "Ich
sehe" gibt es ein "Zu-sehen-Gegebenes". Wie auch der Traum "es zeigt".
Sein Zeigen zerstreut, löst den Focus des "Ich sehe" gleichsam draußen
in den Bildern des Traums auf und läßt durch die Bewegung der
Verdichtung die Visualität als ein "Es zeigt" von sich aus aufgehen,
erblühen, hält durch den Fluß der Verschiebung sich selbst
in Gang und schiebt dabei den Exzeß auf, läßt nicht in
das Außen eintreten, in das nichtdarstellbare Reale, die leere Transzendenz,
sondern leitet in den Traum, das "Es zeigt" zurück. Wie bei Freud
im Traum von Irmas Injektion, bei Bernini in den Ekstasen der Heiligen
Theresa, ist auch bei Duchamp das Extremum der Annäherung an das Außen
in dem Bereich der Braut situiert - in dem oberen Teil des Großen
Glases. In einer grau-rosa schwebenden Wolke (Milchstraße), die
von der links befindlichen Braut - dem Mechanismus Weiblicher Gehenkter
(Pendu femelle) - ausgeht, manifestiert sich diese Verdichtung.
Sie markiert die äußerste Grenze des Bildes, deckt das Außen
und führt in das Bild zurück. Sie bildet das Extremum, bewirkt
Anziehung und Abstoßung zugleich, eine Dynamik, die durch die drei
Kolben - (Anzeige)-Tafeln oder leere Segmente - in dem wolkigen Gebilde
angedeutet ist. "Die fleischfarbene Milchstraße umgibt die 3 Kolben
ungleich dicht". Mechanischen Kolben gleich, regulieren sie das Spiel von
Verdichtung und Verschiebung, durch das Begehren der Braut in Gang gesetzt
und gehalten - "Durchzugs-Kolben, d.h. Stoff vom Durchzug angenommen und
zurückgewiesen". Als Tafeln, als obere Inschrift (The Top Inscription),
figurieren sie den Moment, in dem, vom Begehren der Braut angezogen, sich
Sichtigkeit und Sinn kondensiert und in den Horizont der Junggesellen unten
(ver)mittelt, reflektiert wird. Als leere Segmente stoßen sie ab,
reißen sie Löcher, Lücken in das Gewölk der Verdichtung,
durchstoßen sie den Schirm der Reflexion. Sie verweisen neben der
Verdeckung auf das nicht-zu-deckende Außen, die leere Statt der vierten
Dimension, welche sich bezeugt durch das unsagbare Genießen der Braut,
ihre Seufzer, ihre Ekstase. Die Wolke erblüht, läßt von
sich aus Visualität aufgehen, sprießen, entfaltet die Bildhaftigkeit
der Szene für den Betrachter unten. Duchamp gebraucht das Wort épanouissement
für diese Wolkigkeit - épanouir bedeutet zum Aufblühen
bringen, erblühen, entfalten, erheitern, in der Grünen Schachtel
schreibt er - épanouissement "... der letzte Zustand dieser
entblößten Braut vor dem Genuß, der sie hinwelken ließe."
Der zu Ende kommende Genuß, die tatsächliche Befriedigung würde
die Spannung wie auch das Intervall des Aufschubs beenden und in das Exteriore
der Indifferenz führen - des Schlafes, des Todes. Aber das Erblühen
insistiert, läßt aufgehen, sprießen, "es zeigt". An diesem
Drehpunkt angekommen "wird die Malerei ein Inventar der Elemente dieses
Erblühens sein, Elemente des von ihr, der sehnenden Braut vorgestellten
sexuellen Lebens."
-
"Ich sehe" hat statt, wenn der Betrachter sich situiert hat in den Horizont
der in den Bereich der Junggesellen und der Okulisten-Zeugen reflektierten
vierten Dimension der Braut, wenn er sich situiert hat vor das Erblühen
des Zu-sehen-Gegebenen in reflexiver Einstellung. La mariée mise
à nu par ses célibataires könnte dann den Versuch
bezeichnen, von dieser Position aus zu enthüllen, in dem Horizont
des Sehens und des Sinns etwas fest-zu-stellen. Jedoch bringt das même
am Ende der feststellenden Aussage - "das also war es" - den Versuch unwiderruflich
ins Schwanken, verrückt ihn - La mariée mise à nu
par ses célibataires, même/Die Braut von ihren Junggesellen
entblößt, sogar. Das sinnlose Adverb même (sogar)
- es ist ad verbum, also buchstäblich zu nehmen - läßt
den Satz gleiten, hebt seine Feststellung gleichsam von hinten aus auf
und enthüllt - dies die subversive Bedeutung des mise à nu
- jedes Ankommen im Sehen und im Sinn als Verschleierung, als bloße
Mystifikation.[5]
Anmerkungen IV
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Marcel Duchamp, in: Pierre Cabanne, Gespräche mit Marcel Duchamp,
Köln 1972, S. 59. Back
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Marcel Duchamp, a.a.O., S. 58 Back
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vgl. Jacques Lacan, Das Seminar von Jacques Lacan, Buch XI, Die vier Grundbegriffe
der Psychoanalyse, Olten 1978, S. 116. Back
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Marcel Duchamp, a.a.O., S. 53. Back
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"Titel haben mich stets sehr interessiert. (...) Mein Interesse galt den
Wörtern. Dem Nebeneinander der Wörter, zu denen dann das Komma
trat und das "meme", ein Adverb ohne jede Bedeutung, weil es ja nicht "eux-meme"
(sie selbst) heißt und sich weder auf die Junggesellen noch auf die
Neuvermählte bezieht. Ein Adverb also im besten Sinne des Adverbs.
Ohne Sinn nämlich. (...) Und das im Zusammenhang mit der Entkleidung!
Ein barer Un-Sinn." Marcel Duchamp, a.a.O., S, 54. Back
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