Exzeß und Fraktur des Anderen.

Die Braut, die Junggesellen und ihre Zeugen
- Drei (Wunsch)szenen - 
Bernini: Die Ekstasen der Hl. Theresa; Freud: Der Traum von Irmas Injektion; Duchamp: Das Große Glas - La mariée mise à nu par ses célibataires, même.


IV


Astrid Nettling


artefact text and translation
Cologne, Germany



Version 1.0 April 1992

Inhaltsverzeichnis


Copyright (c) 1991-1992 by Astrid Nettling, all rights reserved. This text may be used and shared in accordance with the fair-use provisions of U.S. copyright law, and it may be archived and redistributed in electronic form, provided that the author is notified and no fee is charged for access. Archiving, redistribution, or republication of this text on other terms, in any medium, requires the consent of the author. 

    IV

  1. Duchamps Großes Glas läßt den Betrachter reserviert. Inmitten von Visualität - das Große Glas bietet dem Auge etwas an - inszeniert es eine Reserve des Sehens, hält es das Sehen zurück - es entfaltet sich zunächst kein Horizont des "Ich sehe". Duchamp bezeichnet den Stil seines Bildes als "viszeral".[1] Anders als eine Abstraktion, die von den Dingen etwas wegzieht - abstrahere hat die Bedeutung von abziehen, trennen - und einen bestimmten Aspekt isoliert und hervorhebt, geht Duchamps Stil unter die Haut der Dinge, (durch)bricht er ihren Horizont, ihren Raum. Das Große Glas wendet sich nicht an das Auge und das Sehen im Sinne des Netzhaut-Effekts, d.h. ein vom Sehen und seinem Sehkreis aus aufgebautes Tableau, sondern Duchamp setzt diesen Effekt aus, bewahrt eine Reserve zur optischen Szene, die für die Tradition der Malerei so relevant wurde. Als Bild bleibt das Große Glas ganz in der zweiten Dimension, hält sich dort im Unterschied zur "Netzhautkunst", die eine Projektion der räumlichen in die flächige Dimension darstellt, ist näher an der Flächigkeit der Schrift als an der Dreidimensionalität des Sehens. Es gleicht einem Konstruktionsschema, d.h. es ist der Ausführung, einem mettre-en-scène durch den Betrachter vorbehalten. Diese Reserve des "Ich sehe" hat Duchamp unterstrichen durch die Grüne Schachtel, eine lose, nicht-systematische Notizen- und Zettelsammlung zum Großen Glas: "Und dieses Album wollte ich dann dem 'Glas' beigesellen, man sollte es beim Betrachten des Bildes konsultieren können, weil dieses nicht einfach, im ästhetischen Sinne des Wortes, "angeschaut" werden sollte. Das Buch gehörte dazu, man mußte beides gleichzeitig vor Augen haben. Denn die Verbindung dieser beiden Objekte hob das mir so unsympathische "Netzhaut-Moment", das optische Moment, auf."[2]
  2. Die dritte Dimension wird reserviert, ausgesetzt - sekundär erst wird das Große Glas den Horizont des "Ich sehe" hervorbringen, dann, wenn der Betrachter sich situiert hat. In einer Verspätung - Duchamp nennt es auch retard en verre, also "Verspätung im Glas" - wird sich eine Szene eingrenzen und sich auf sich selbst hin geöffnet haben. Ebenso wird in einer Brechung, wie etwas im Durchgang durch ein Medium - etwa Glas - gebrochen wird, sich die Szene als Ablenkung, Refraktion in einem Medium, dem des Sehens, organisiert haben. Das Verb frangere in der Bedeutung von beugen, schwächen, entkräften, bändigen - markiert auch den Aspekt von (Be)zähmung, wie etwa eine Kraft gebändigt wird, in Schranken gehalten. "Blickzähmung" nennt Lacan die Wirkweise der Malerei [3] so, wie Duchamp ihre Tradition als "Netzhautmalerei" charakterisiert, d.h. der Ordnung des Sehens unterworfen. Durch diese Brechung, die ein Anderes beugt, ablenkt, in Schranken, hält etabliert sich ein Schauplatz der Sichtigkeit. Es grenzt sich ein Horizont des Darstellbaren ein, der jedoch zugleich von einem Außen getragen wird. Duchamp spricht von einer nichtdarstellbaren "vierten Dimension", die die dritte Dimension verursacht:
  3. Das Tableau der Welt ist eine Projektion, also eine Abbildung mit ihrer medialen Brechung, einer anderen Dimension, die sich entzieht in ein Außerhalb. Die "vierte" Dimension muß ex-zediert bleiben, sie ist nur zu hypostasieren und in Ansehung zu bringen über eine Fraktur, d.h. daß die Einrückung des Horizonts des Sehens je immer nur retardiert und abgelenkt vonstatten geht. Die Spanne der Aussetzung, der viszerale (Durch)bruch des Horizonts legt die Statt des Sehens bloß und hält ihren Raum dekuvriert, indem sie ihre reflexive Verfaßtheit aufdeckt, entblößt. La mariée mise à nu entmystifiziert die Ordnung des Sehens.
  4. Diese vom Sehen entblößte Statt legt Duchamp vor. Vor dem "Ich sehe" gibt es ein "Zu-sehen-Gegebenes". Wie auch der Traum "es zeigt". Sein Zeigen zerstreut, löst den Focus des "Ich sehe" gleichsam draußen in den Bildern des Traums auf und läßt durch die Bewegung der Verdichtung die Visualität als ein "Es zeigt" von sich aus aufgehen, erblühen, hält durch den Fluß der Verschiebung sich selbst in Gang und schiebt dabei den Exzeß auf, läßt nicht in das Außen eintreten, in das nichtdarstellbare Reale, die leere Transzendenz, sondern leitet in den Traum, das "Es zeigt" zurück. Wie bei Freud im Traum von Irmas Injektion, bei Bernini in den Ekstasen der Heiligen Theresa, ist auch bei Duchamp das Extremum der Annäherung an das Außen in dem Bereich der Braut situiert - in dem oberen Teil des Großen Glases. In einer grau-rosa schwebenden Wolke (Milchstraße), die von der links befindlichen Braut - dem Mechanismus Weiblicher Gehenkter (Pendu femelle) - ausgeht, manifestiert sich diese Verdichtung. Sie markiert die äußerste Grenze des Bildes, deckt das Außen und führt in das Bild zurück. Sie bildet das Extremum, bewirkt Anziehung und Abstoßung zugleich, eine Dynamik, die durch die drei Kolben - (Anzeige)-Tafeln oder leere Segmente - in dem wolkigen Gebilde angedeutet ist. "Die fleischfarbene Milchstraße umgibt die 3 Kolben ungleich dicht". Mechanischen Kolben gleich, regulieren sie das Spiel von Verdichtung und Verschiebung, durch das Begehren der Braut in Gang gesetzt und gehalten - "Durchzugs-Kolben, d.h. Stoff vom Durchzug angenommen und zurückgewiesen". Als Tafeln, als obere Inschrift (The Top Inscription), figurieren sie den Moment, in dem, vom Begehren der Braut angezogen, sich Sichtigkeit und Sinn kondensiert und in den Horizont der Junggesellen unten (ver)mittelt, reflektiert wird. Als leere Segmente stoßen sie ab, reißen sie Löcher, Lücken in das Gewölk der Verdichtung, durchstoßen sie den Schirm der Reflexion. Sie verweisen neben der Verdeckung auf das nicht-zu-deckende Außen, die leere Statt der vierten Dimension, welche sich bezeugt durch das unsagbare Genießen der Braut, ihre Seufzer, ihre Ekstase. Die Wolke erblüht, läßt von sich aus Visualität aufgehen, sprießen, entfaltet die Bildhaftigkeit der Szene für den Betrachter unten. Duchamp gebraucht das Wort épanouissement für diese Wolkigkeit - épanouir bedeutet zum Aufblühen bringen, erblühen, entfalten, erheitern, in der Grünen Schachtel schreibt er - épanouissement "... der letzte Zustand dieser entblößten Braut vor dem Genuß, der sie hinwelken ließe." Der zu Ende kommende Genuß, die tatsächliche Befriedigung würde die Spannung wie auch das Intervall des Aufschubs beenden und in das Exteriore der Indifferenz führen - des Schlafes, des Todes. Aber das Erblühen insistiert, läßt aufgehen, sprießen, "es zeigt". An diesem Drehpunkt angekommen "wird die Malerei ein Inventar der Elemente dieses Erblühens sein, Elemente des von ihr, der sehnenden Braut vorgestellten sexuellen Lebens."
  5. "Ich sehe" hat statt, wenn der Betrachter sich situiert hat in den Horizont der in den Bereich der Junggesellen und der Okulisten-Zeugen reflektierten vierten Dimension der Braut, wenn er sich situiert hat vor das Erblühen des Zu-sehen-Gegebenen in reflexiver Einstellung. La mariée mise à nu par ses célibataires könnte dann den Versuch bezeichnen, von dieser Position aus zu enthüllen, in dem Horizont des Sehens und des Sinns etwas fest-zu-stellen. Jedoch bringt das même am Ende der feststellenden Aussage - "das also war es" - den Versuch unwiderruflich ins Schwanken, verrückt ihn - La mariée mise à nu par ses célibataires, même/Die Braut von ihren Junggesellen entblößt, sogar. Das sinnlose Adverb même (sogar) - es ist ad verbum, also buchstäblich zu nehmen - läßt den Satz gleiten, hebt seine Feststellung gleichsam von hinten aus auf und enthüllt - dies die subversive Bedeutung des mise à nu - jedes Ankommen im Sehen und im Sinn als Verschleierung, als bloße Mystifikation.[5]

    1. Anmerkungen IV


    2. Marcel Duchamp, in: Pierre Cabanne, Gespräche mit Marcel Duchamp, Köln 1972, S. 59. Back

    3. Marcel Duchamp, a.a.O., S. 58 Back

    4. vgl. Jacques Lacan, Das Seminar von Jacques Lacan, Buch XI, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Olten 1978, S. 116. Back

    5. Marcel Duchamp, a.a.O., S. 53. Back

    6. "Titel haben mich stets sehr interessiert. (...) Mein Interesse galt den Wörtern. Dem Nebeneinander der Wörter, zu denen dann das Komma trat und das "meme", ein Adverb ohne jede Bedeutung, weil es ja nicht "eux-meme" (sie selbst) heißt und sich weder auf die Junggesellen noch auf die Neuvermählte bezieht. Ein Adverb also im besten Sinne des Adverbs. Ohne Sinn nämlich. (...) Und das im Zusammenhang mit der Entkleidung! Ein barer Un-Sinn." Marcel Duchamp, a.a.O., S, 54. Back


    7. artefact