Exzeß und Fraktur des Anderen.

Die Braut, die Junggesellen und ihre Zeugen
- Drei (Wunsch)szenen - 
Bernini: Die Ekstasen der Hl. Theresa; Freud: Der Traum von Irmas Injektion; Duchamp: Das Große Glas - La mariée mise à nu par ses célibataires, même.


V


Astrid Nettling


artefact text and translation
Cologne, Germany



Version 1.0 April 1992

Inhaltsverzeichnis


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    V

  1. Der Schauplatz der Sichtigkeit hat sich eingeräumt. In der Spannung von Anziehung (Verdichtung) und Abstoßung (Verschiebung) geht er auf. Aber sein Spielraum wird übertroffen durch ein Außerhalb-der-Szene, das er vergeblich in Szene zu setzen versucht. Seine Dimension bleibt beschnitten durch das Außen, durch etwas, das sich durch einen Einschnitt abgetrennt hat und das im Inneren lediglich zur Wirkung kommt über eine umwegige Führung von Frakturen, die gleichsam Reflexe dieses Ereignisses bilden, das aus jedem Raum herausfällt, aber dennoch im Innern insistiert. Abstand und Spanne eines après coup (Nachträglichkeit). Freud hat über den metapsychologischen Begriff der Nachträglichkeit versucht, die Wirkweise eines Außen im Innern zu fassen, als etwas, was niemals anwesend war, zur Anwesenheit kommt oder kommen wird - es hatte kein Da, keinen Ort, keine Szene -, dessen Spuren sich jedoch ständig (re)präsentieren, darstellen, aufzeichnen und umschreiben, immer schon danach, ohne ein Davor. Ein Schlag trifft den psychischen Apparat unvorbereitet - ein Einfall, der nicht verarbeitet werden kann, ein Zuviel an Erregung, Einbruch und Bahnung einer Spur, einer Differenz.
  2. Ein zweiter Coup läßt diese affektive Wolke sich verdichten und löst eine Szene aus, d.h. eröffnet von da an den möglichen Horizont von Darstellung und Sinn. Diese zweizügige Wirkweise der Nachträglichkeit kommt nicht der Struktur der Kausalität nach, es setzt keine Wirkung ins Werk im Sinne einer kausalen Verursachung, sondern insistiert als eine "Wiederholung", es insistiert als die wiederholende, also die aufnehmende, wieder beginnende, erneuernde Aktivierung einer Spur, deren Resonanz immer wieder in Szene gesetzt wird. Wiederholung einer Spur, einer Differenz - so wie sie drängt nicht zuletzt als sexuelle Differenz, eine Differenz ohne Schauplatz, Bild oder Wort.
  3. Der Schauplatz der Sichtigkeit hat sich entfaltet, immer schon. Er hat seine Spanne in eine Zweiheit aus-einander-gesetzt. Sein Spielraum legt sich in zwei Bereiche dar, seine Spannweite hält sich über eine Polarisierung in einen "weiblichen" und einen "männlichen" Pol aufrecht. Damit spannt sich eine Dimension an, die ein Geschlechterverhältnis ausrichtet, setzt ein "Männliches" in einen Bezug zu einem "Weiblichen". Es gibt den Bereich der Braut - Theresa, Irma, La mariée - und den Bereich der Junggesellen und der (Augen)Zeugen - die Stifter, sie sind zugleich die Augenzeugen (zum größten Teil Kardinäle der Familie Cornaro), Freud als Traumsubjekt und seine drei Doktorenkollegen als Augenzeugen, die "Neun Männischen Gußformen" und die "Okulistenzeugen". Die Differenzierung hält somit einen polaren Raum auseinander, immer schon diesseits der Differenz, deren Spur sich rekapituliert als auseinandergesetzt in zwei.
  4. Diese Auseinandersetzung spannt. Sie reguliert jene Phase, deren Dauer zwischen dem Extremum - der Bereich der Braut und ihr besonderer Bezug zum Exterior - und dem Interior, dem mehr nach innen gelegenen Bereich des "Männlichen" und sein Bezug zum Sehen und zum Sinn, verläuft. Die Auseinandersetzung zieht an und bringt jene Distanzspanne zur Geltung, die über den Raum hinaus wirkt, an dessen äußerster Grenze das Andere, so es verlockt wird zu ek-sistieren - es kommt heraus, taucht auf, kommt zum Vorschein - als "weiblich" figuriert. Es ist ein Ek-sistieren, dessen Spezifik es ist, wesentlich die Seite des Entzogenseins in ein Außen zu manifestieren, ein Ek-sistieren des Sich-entziehens, dem das "Weibliche" als zölibatäre, jungfräuliche Braut entspricht. Sie hält eine Reserve zur Szene, etwas bleibt draußen, zieht sich hinter das Ek-sistieren zurück. Dieses Außerhalb-der-Szene als ein dem Inneren verschlossener Part ist der Braut reserviert, ein Anteil, für den sie seh- und sinn(en)los einsteht, ihn außer sich bezeugt.

    1. Anmerkungen V


    2. Jean-Francois Lyotard, a.a.O., S. 25. Back

    3. Jean-Francois Lyotard, a.a.O., S. 29. Back


    4. artefact