kaum ständig noch

Phänomenologie der Männlichkeit als Wersein


Michael Eldred


artefact text and translation
Cologne, Germany


6. Die Freundschaft: kaum dazwischen

i) Verschlossenheit und Höflichkeit


Version 2.1 July 1996
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Inhaltsverzeichnis dieses Kapitels


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    6. i) Verschlossenheit und Höflichkeit

  1. Die Vorherrschaft des Aufstrebens, des Am-Sein-teilhaben-wollen im Werstandskampf macht die innige Freundschaft und die mit ihr verbundene Möglichkeit des Sichberührens und Sich-gegenseitig-entwerfens ontisch zu einer Seltenheit, was aber nichts über ihr ontologisches Gewicht aussagt. Das agonistische, antagonistische Wesen des Werseins bringt es mit sich, daß die Verschlossenheit alltäglich im Mitsein vorherrscht, was bedeutet, daß der Wer sich auf keine Berührung einläßt, in der er sich unverstellt mitteilt. Dies entspricht und ist fundiert in der ontologischen Vorherrschaft der dritten über die zweite Person. Die Verschlossenheit ist nicht lediglich ein Phänomen eines sich-selbst-beherrschenden Subjekts - das etwa psychologisch als Mangel oder Stärke eines Einzelnen oder einer Kultur betrachtet werden könnte -, sondern ein Phänomen, dem das männliche Dasein prinzipiell, d.h. vom Sein her, entspricht[1]. Der männlich Seiende ist auf sich gestellt, um sich zu halten, und dafür muß er sich gegen andere verschließen, d.h. die Grenzen seines selbständigen Seins ziehen. Vermutlich gerade wegen des selbstverständlichen agonistischen und antagonistischen Wesens des Werseins, d.h. solange das Sein des männlich Seienden in seiner banalen We(h)rhaftigkeit noch frei und unhinterfragt walten konnte, haben die Philosophen seit den Griechen zum Thema Freundschaft, aufs Ganze gesehen, wenig gesagt, und wenn, dann in der Form einer Tugendlehre, in der der Freund selbstverständlich als ein Seiendes wie alles andere genommen wird. Das große Verdienst der dialogischen Philosophie des 20. Jahrhunderts von Buber bis Goldschmidt liegt in ihrem Bestreben, die erste und zweite Person aus ihrer Subsumtion unter die dritte zu befreien und sie als eine eigene ontologische Dimension zu begreifen. Diese Befreiung gelingt aber nur, wenn die Heideggersche Frage nach dem Sein, und d.h. die Differenz zwischen Sein und Seiendem, in Sicht bleibt, was allerdings in der dialogischen Philosophie keineswegs geleistet worden ist.

  2. Auf dem jetzt erreichten Stand ist es nun möglich, die Phänomene von Verschlossenheit und Höflichkeit ontologisch zu orten. Die Verschlossenheit ist ein Wesenskennzeichen des männlichen Miteinanderseins als Gegeneinander der wehrhaft Werseienden. Sie ist ursprünglich kein psychologisches Phänomen, sondern ein ontologisches Ereignis, das darin besteht, daß der männlich Seiende in der Entsprechung zum Sein als der Ständigkeit der Anwesung sich als ein Seiendes in der dritten Person aufrechterhalten muß. Dieses ontologische Schicksal schlägt sich in der Kultur - die letztlich immer von den geschichtlichen Abwandlungen der Weisen (der be-stimmenden Melodien) des Seins selbst abhängt und nichts Ursprüngliches ist - als eine be-stimmte Form der Sittlichkeit nieder, die wir Korrektheit oder Höflichkeit nennen können. Die Höflichkeit verhindert die Berührung, sie schmiert das Aneinandervorbeigleiten und sichert, daß ich als ich durch dich nicht angesprochen bzw. angegangen werde, daß du und ich sich nicht ereignen. Sie ist als Gleitmittel die kultiviert-kulturelle Bändigung der Werseins-Agonistik, die einen sachlichen, erfolgsorientierten Umgang der männlich Seienden miteinander und mit Seiendem in der Verschlossenheit der sachlichen Verbundenheit ermöglichen sollte - und es in der gesellschaftlichen Wirklichkeit als Besorgen des Seienden im großen und ganzen auch ermöglicht. Sie ist auch das Zukleben und Überspielen der Dimension zwischen dir und mir, denn als Höfliche treten wir uns nicht zu nah. Die gegenseitige Achtung als persona in ihrer gesellschaftlichen Rolle bewahrt die Distanz zwischen den Werseienden, damit sie einerseits nicht in das blanke Gegeneinander einer offenen Vermessung geraten, die von der Verwirklichung eines sachlichen Wer-Entwurfs wegführt, und andererseits verhindert die Distanz, daß die Werseienden in die Reiberei einer technisch unfruchtbaren (d.h. kontraproduktiven), aus-einander-setzenden Berührung dazwischen verfallen. Die Korrektheit lenkt das männliche Mitsein in die sichereren Bahnen eines verhüllteren Vermessens und einer sachlichen Verbundenheit, in der die Sache in einem sicheren Abstand bleibt und einen sicheren Abstand gewährt, damit die Sache erledigt werden kann. Auf diese kulturell sanktionierte Weise wird die Agonistik so ausgetragen, daß ein Zu-nah-treten, das dem technischen Umgang mit Seienden abträglich wäre, vermieden wird.

  3. Die Höflichkeit leistet die Angleichung der Werseienden an den Stand der Ständigkeit und in eins damit die Beständigung und Substantivierung von dazwischen in das Zwischen. Mitsein dazwischen ist unbeherrschbar und damit der Einrichtung des Seienden in der Mitwelt möglicherweise abträglich. Im Zwischen findet u.a. die Kommunikation zwischen Subjekten statt, während dazwischen wechselseitiger Angang von mir und dir geschieht.

  4. Da in der gegenseitigen Achtung als personae keine Entlarvung geschehen kann, gehört die persona wesensgemäß zum Larven-Komplex, der in der Korrektheit und Höflichkeit der Öffentlichkeit in der Regel, d.h. solange die männlich Seienden die Regel beachten, nicht in Frage gestellt, sondern eben beachtet wird. Die persona schützt die Dimension dazwischen. Aber auch die Zusammenkunft wagt es in der Regel nicht, die Verhaltensregeln der Höflichkeit zu übertreten, sondern begnügt sich im Zuvor- und Entgegenkommen, wenn nicht mit einer unüberbrückbaren Distanz, dann doch mit einer werstandsbefestigenden Anerkennung. Das Entgegenkommen dient der Überwindung der Schroffheiten des Werstands, indem es eine scheinbare, liebenswürdige Nähe herstellt, aber im Grunde die Distanz zwischen den Werseienden in keiner Weise aufzuheben vermag, noch dies anstrebt. Die momentane Aufhebung der Distanz in einer echten Nähe ereignet sich nur in der seltenen Transzendenz dazwischen, in der wir uns unmittelbar und unerklärlich gegenseitig entwerfend begegnen. Diese Art von Begegnung bedeutet einen Wechsel der ontologischen Dimensionen zwischen dem Sein der dritten Person (Es) und dem Sein dazwischen, wo wir uns begegnen. In der Dimension dazwischen treffe ich auf kein Seiendes, sondern ich begegne dir in deiner Andersheit.

  5. Die Höflichkeit mit ihren Formeln des Nicht-zu-nahe-tretens bewahrt im Alltag die nötige Distanz zwischen scheinbar Fürsichseienden, damit das Besorgen seinen Gang nehmen kann. Ob eine gegenseitige Achtung die Formen füllt, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen; nur die Stimmung gibt darüber Aufschluß, wenn überhaupt. Vor allem gewähren die Formen eine apolemische Neutralität. Als zur persona gehörig verbirgt das höfliche Verhalten den Anderen hinter einer undurchdringlichen Larve. Indem der Eine sich auf Distanz hält, läßt er den Anderen aber auch in seiner Einsamkeit frei - die Freiheit der Person, die in den Menschenrechten verankert ist. Von ihrer Ontologie aus vermag die Metaphysik nur diese Freiheit zu denken. Nur vom Standpunkt eines Mangels an Intimität und Berührung wird die Leere der Höflichkeit - und damit der sie begründenden Freiheit - in der Stimmung spürbar. Gleichgültig dagegen, ob die Höflichkeit in eine kühle Unverbindlichkeit oder eine liebenswürdige aber hohle Verbindlichkeit führt, stellt sie keine Verbindung her, die den Werseienden in seinem Kern anginge. Der höfliche Andere drängt sich dem Wer nicht auf und läßt ihn damit als Werseienden sein. Er beschränkt sich auf die Erfordernisse der sachlichen Verbundenheit im Absehen von der näheren (ersten) Person des personatragenden Wer. Hinter der Formalität der Höflichkeit kann sich entweder eine Zuneigung oder eben eine Gleichgültigkeit oder sogar eine Abneigung verbergen. Solche Neigungen hin oder her sind insofern unsachlich in einem strengen ontologischen Sinn, als sie sich aus der allzu steifen Ständigkeit des Seins hinauslehnen und für den Umgang mit der Sache nebensächlich sind.



      Anmerkungen 6. i)


    1. Vgl. auch das nächste Kapitel. Back

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