kaum ständig noch

Phänomenologie der Männlichkeit als Wersein


Michael Eldred


artefact text and translation
Cologne, Germany


6. Die Freundschaft: kaum dazwischen

h) Die Wahrheit dazwischen


Version 2.1 July 1996
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Inhaltsverzeichnis dieses Kapitels


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    6. h) Die Wahrheit dazwischen

  1. Wenn hier die Rede von Wahrheit, Unwahrheit, Selbst-Wahrheit und dergleichen ist, fragt man sich, was diese Wörter im Zusammenhang der ersten und zweiten Person bedeuten können, da ich keine feststellbare Tatsache bin, die richtig oder falsch sein könnte. Deshalb wurde 'Wahrheit' und ihre Ableitungen in Anführungszeichen gesetzt, um die Distanz zur üblichen Wahrheit zu markieren. Versuchen wir, dieser eigenartigen Art von Wahrheit etwas näher zu kommen.[1]

  2. Die Begegnung ist kein Ereignis der Verschmelzung zwischen zweien, sondern setzt mich eher insofern auseinander, als sie mein Kreisen in mir selber durch den Angang deines Da durchbricht und aussetzt. Die Begegnung bleibt zweideutig, ambivalent. Einerseits finde ich mich in dir, andererseits stoße ich auf eine Fremdheit bei dir, die mich wieder abstößt. Damit verschließt sich tendenziell die Dimension der Begegnung wieder. Bei der Aus-einander-setzung wird mein 'ich bin' strittig, ich werde in Frage gestellt. Diese Aus-einander-setzung ist bereits dadurch gegeben, daß du unkontrollierbar sprichst. So wie Sein und Wahrheit immer schon in einem engen Verhältnis zueinander gestanden haben, stehen jetzt 'ich bin' und die Wahrheit nah beieinander, aber keineswegs in der Art einer Objektivität. In der Seinsweise von 'ich bin' und 'du bist' muß Wahrheit etwas ganz anderes bedeuten als in der traditionell ontologischen Seinsweise der dritten Person. Bei der Wahrheit in der ersten Person gibt es nichts festzustellen, weil ich nicht fest stehe, sondern durch dich und deine Sprache mit entworfen bin. Wie du sagst, wer ich bin, so bin ich auch, denn ich bin nur in deinen Augen, ich ereigne mich - oder vielmehr werde eräugnet - nur dazwischen mit dir. Aber ich bilde mir auch ein, wer ich bin, und dieses Selbstverständnis gerät in Widerspruch mit deinem Entwurf von mir, der meinem 'ich bin' keineswegs äußerlich ist. Sofern die Begegnung mich auseinandersetzt, steht die Wahrheit über mich zur Disposition dergestalt, daß ich darin im Spiel der Sprache zwischen uns als ich entworfen werde. Die Wahrheit über mich ist strittig (aber auch spielerisch). Im Streit und Spiel werde ich in Wahrheit, wer ich bin. Du rufst mich hervor, du stiftest mich, du setzt mich in mein ich ein, nicht weil du mehr über mich weißt als ich selber, sondern weil deine Andersheit mich trifft und mich nicht mehr zu Ruhe kommen läßt.

  3. Wahrheit in der ersten Person läßt sich nicht mehr, wie in der dritten Person, als unverstelltes Sichzeigen in der Unverborgenheit übersetzen, sondern muß als Hervorrufung durch dich verstanden werden, eine Hervorrufung, die einem Eingesetztsein gleichkommt, die aber keineswegs als eine göttliche Hervorrufung gedacht werden muß, wie die theologischen Dialogiker dies tun[2].

  4. In der Hervorrufung durch dich geschieht meine Wahrheit - aber wie? Die Wahrheit des Seins west als die Lichtung der Unverborgenheit, in der alles Seiende sich von sich her zu zeigen vermag. Die Wahrheit eines Seiende (in der dritten Person) ist sein unverstelltes, d.h. von sich her, Sichzeigen in der Lichtung der Wahrheit des Seins, d.h. in der Offenheit der 'ontologischen Differenz', in der allein Seiendes als solches sich zeigen kann. In der Begegnung dazwischen jedoch geschieht Wahrheit anders, nämlich durch deine Hervorrufung, auf die ich antworte, indem ich ihr entspreche. Ich entspreche deinem Anruf, indem ich mein Verhalten auf ihn abstimme und so das Spiel dazwischen zulasse. Wahrheit dazwischen geschieht nicht, indem ich deiner Vorstellung von mir entspreche, sondern indem ich dir eine Antwort gebe, die dich auch erreicht, d.h. anspricht. So öffnet sich ein geteiltes Da, in dem anderes Seiende hervorgerufen und angesprochen wird. Im geteilten Da geschieht Wahrheit dazwischen, aber nicht weil Seiendes dort so erscheint, wie es (in Wahheit) ist, sondern schon zuvor in deiner Hervorrufung und meiner entsprechenden Antwort, wodurch das Da dazwischen sich auftut. Diese (sprach-)spielerische-strittige Lichtung ist der unscheinbare, zarte, flüchtige Ort dazwischen, an dem wir uns zwischendurch erreichen und unsere jeweiligen Welten teilen.

  5. Die Larven, die ich trage und die ausmachen, wer ich bin, werden von dir in deiner Sprache aus der Begegnung dazwischen heraus - soweit ich dir eine Antwort gebe - neu entworfen, so daß ich auch anders werde. Du umzingelst mich im Spiel deiner Worte; wer ich jeweils dazwischen bin, ergibt sich aus dem Spiel der Zeichen, das sich aus meiner Entsprechung zu deinen Worten ergibt. Damit ist einsehbar, daß Sein in der ersten Person wenig mit Beständigkeit zu tun hat und daß deshalb dort Sein und Werden keinen Gegensatz bilden. Du und ich gibt es nur wechselseitig und paarweise, strittig und spielerisch aus unserem geteilten Da. Sein in der zweiten Person, du-sein liegt in der Hervorrufung, der Pro-vokation, der strittig-spielerischen Entwerfung von mir und dir. Du bist mein Provokateur, der mich herausfordert und hervorruft, ich zu sein. Ich-sein ist freilich Wer-sein und damit die Verknüpfung von Haltungen und Einstellungen, von Wortgebilden und Zeichenspielen mit meinem Eigennamen aus dem Verhältnis zu den Seienden heraus. Dazwischen in der Begegnung lasse ich es zeitweilig zu, oder vermag es nicht abzuwehren, daß du mich als mich pro-vozierst und somit zu meinem Mitgestalter wirst. Du-sein ist damit eine kreative Seinsweise, und dazwischen eine schöpferische Dimension der Ermöglichung von Entwurf, dessen Möglichkeiten durch den Reichtum der Sprache aus deinem Mund und meine Erwiderungen darauf gegeben sind. Diese Ermöglichung ist gegenseitig, da der spielerische Streit und das strittige Spiel dazwischen nur gegenseitig sein können. Ich muß mich von dir anstimmen lassen, wie du von mir auch.

  6. Erst wo existenziell die Möglichkeit sowohl des Sich-mitteilens als auch der Auseinandersetzung über die eigene, larven-bezogene Wahrheit aufgeht, dort fängt die Berührung in der Freundschaft an. Erst dort kann man von ich-sein und du-sein dazwischen reden. Die Berührung widerspricht dem agonistischen, abgrenzenden Wesen des ständigen Werseins, aber als seine Ausnahme im Riß dazwischen gehört sie auch zu ihm. Sie gelingt ontisch in der Existenz nur als eine Gegenbewegung zu den Festlegungen des Werstandskampfes und den Bemühungen um einen bloß bestätigenden Aufbau des eigenen Selbst. Sie entspricht nicht der wesenhaft männlichen, fürsichseienden Wesensart und wird doch als Möglichkeit des Wesens als Wer dazwischen in der Begegnung vom zwiefältigen Sein eingeräumt. Zwischen Eins und Drei gibt es Zwei, da ist dazwischen, da gibt es dich für mich. Diese Möglichkeit liegt in der Doppeldeutigkeit des Werseins als Wer (in der ersten und dritten Person) und wer (in der ersten und zweiten Person). Der Wer ist bestrebt, an der Ständigkeit des Seins teilzuhaben, und richtet sich dementsprechend auf, ich hingegen als wer bin bereit oder kann nicht anders, als mich in der Auseinandersetzung mit dir strittig-spielerisch entwerfen zu lassen. So eröffnet sich eine andere Dimension der Transzendenz zu dir hin dazwischen, eine Dimension, die in der Metaphysik untergegangen ist, die jedoch heute unscheinbar, aber immerhin in den Ritzen auftaucht.

  7. Daß die Berührung zwischen Freunden wesenthaft mit Auseinandersetzung verbunden ist, hängt damit zusammen, daß du in deiner Andersheit anders bist und damit mit einem Nichts durchzogen. Ich bin einerseits ich selber und nicht du, du bist einerseits du selber und nicht ich. Gerade in der Beziehung zueinander ist die Nicht-Identität zwischen dir und mir konstitutiv. "Das aber besagt, daß der Eine im Anderen sich, in sich den Anderen negiert. Im Sich-aufeinander-beziehen durchmessen beide den Raum radikalen Anderseins, der der unbestimmte Raum ihres bestimmten Nichtseins ist."[3] Du bist und bleibst anders, deine Andersheit ist unaufhebbar. Weil wir miteinander wesenhaft nicht identisch sind, kannst du dich gegen mich abgrenzen, abwehren, absagen, nein sagen. Gerade mit diesem und durch dieses Nicht berühren wir uns und sind du und ich. Unsere Freundschaft ist keine Hegelsche "Identität von Identität und Nicht-Identität" noch ein Aristotelisches "eine-Seele-in-zwei-Leibern", sondern Auseinandersetzung von sich aufeinander beziehenden, differierenden und interferierenden Verschiedenen. In der Nichthaftigkeit der Auseinandersetzung geschieht Wahrheit anders, nämlich als gegenseitige Entwerfung, in der wir uns gegenseitig differenzierende Worte und Gesten zuspielen. Meine Selbigkeit ist dem Austrag der Aus-einander-setzung zwischen unserer jeweiligen pulsierenden Andersheit ausgesetzt und damit wiederrufbar. Inzwischen rufst du mich durch deine Andersheit immer wieder anders hervor, so daß ich auch anders in meinem jeweiligen Da bin.

  8. Die Freundschaft birgt in sich nicht nur die Möglichkeit, sich mit und an dem Anderen zu freuen, sondern auch wesenhaft die Möglichkeit der sichberührenden Auseinandersetzung, die zugleich ein Wahrheitsmoment enthält dergestalt, daß meine Hervorrufung durch dich geschieht als auch umgekehrt. Nur wo die beiden Möglichkeiten sich verwirklichen, kann von einer echten Freundschaft die Rede sein, denn nur dann ist sie in der Gegend der erste-Person-Wahrheit dazwischen angesiedelt, wo es nicht mehr möglich ist, sich mit der nur bestätigenden, und damit die Ständigkeit befestigenden, narzißtischen Bespiegelung zufriedenzugeben. Ich- und du-sein dazwischen gibt es, wie bereits erwähnt, nur wechselseitig. Nur in der Wechselseitigkeit und Umkehrbarkeit liegt die Einschränkung von deiner Macht und Einfluß über mich, denn ich rufe auch dich hervor, für dich bin ich auch du und damit dein Provokateur. Keiner von uns steht auf festem Grund, von wo aus ich dich oder du mich eigenmächtig hervorrufen könnte bzw. könntest. In solcher Gleichstellung habe weder ich über dich noch hast du über mich Macht. Dazwischen ist damit eine Gratwanderung mit der ständig lauernden Tendenz, in einen Machtkampf abzurutschen, in dem die Auseinandersetzung zu einem Aneinandergeraten zwischen seienden Werständigen wird. Dann kehrt sich das jeweilige Fürsichsein hervor, und man zeigt, Wer man ist. Das Entwerfen dazwischen, das als unbeständiges Wahrheitsgeschehen zwischen mir und dir, als wechselseitige, sprachspielerische Hervorbringung verstanden werden kann, besteht aber nicht lediglich in der Gegenseitigkeit, als könnten du und ich miteinander ausmachen, daß wir uns gegenseitig entwerfen, sondern ist als unverfügbare Möglichkeit kraft der Begegnung gegeben, die uns überwältigt und uns als ich und du aus ihr entläßt. Das heißt aber, daß das gegenseitige Entwerfen nicht als intentionales, willentliches gedacht werden kann, sondern als ereignishafte Provokation, in der wir uns zeitweilig befinden, d.h. in die wir unverhofft geworfen werden. Die Begegnung selbst als Dimension von ich und du ist eine transzendentale Dimension der Ermöglichung. Sie geschieht primär durch Sprache und ihr Spiel der Differenzen, aber auch unscheinbarer durch die Mitgestimmtheit, in der wir uns stimmungshaft gegenseitig be-stimmen.



      Anmerkungen 6. h)


    1. Ute Guzzoni formuliert dies so: "Ausgehend von der radikalen Andersheit, die das Verhältnis des Menschen zum Menschen auszeichnet, sage ich demgegenüber, daß es in einem grundlegenden Sinne unter Menschen gerade nicht um Wahrheit geht, - jedenfalls nicht in der metaphysischen Bedeutung von Wahrheit." ' "Anspruch" und "Entsprechung" und die Frage der Intersubjektivität' in Ute Guzzoni (Hrsg.) Nachdenken über Heidegger: Eine Bestandsaufnahme Hildesheim 1980 S.126. Guzzoni interpretiert das Verhältnis zwischen Menschen als ein "ursprüngliches Verhältnis" (S.128), was hier als die Eigenständigkeit der Dimension dazwischen gedacht wird. Back

    2. So referiert Theunissen z.B. Ebner in a.a.O. S. 361. Back

    3. Guzzoni, a.a.O. S.129. Back

    4. Back

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