... und hier wurde mir zum erstenmal bewußt, daß es auf den Namen allein ankam, daß er allein trug und neben ihm alles Übrige verblaßte.
Elias Canetti
Die gerettete Zunge
Ich schaute in das Fenster und sah, zum erstenmal, mein erstes Buch. Da lagen mehrere Exemplare nebeneinander. Ich vergewisserte mich. Ja - mein Name, der war richtig gedruckt. Ach, hat mich das erleichtert!
Ernst Herhaus
Kapitulation
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2. h) Der wehrhafte Wer
Wir nehmen jetzt einen weiteren etymologischen Faden auf, um auf andere Aspekte des Werseins zu kommen. Im Mittelhochdeutschen schreibt sich Wehr als "wer" und ist mit dem Englischen "wier" und dem Niederländischen "weer" mit der Grundbedeutung "Verteidigung, Befestigung" verwandt. Wenn die Wehr sich mittelhochdeutsch "wer" schreibt und somit sich als homograph, d.h. homonym, sowie als homophon mit Wer zeigt, berechtigt uns diese Tatsache zu einem Wortspiel mit Wer und Wehr zu machen und daraus Schlüsse zu ziehen? Haben wir es hier mit einer rein philologischen Angelegenheit zu tun, die durch Sprachforschung geprüft und erhärtet werden muß, wenn überhaupt ein solches Sprachspiel als gerechtfertigt erscheinen soll? Möglicherweise. Doch es gibt weitere, stichhaltigere Hinweise, die über das Lateinische und Althochdeutsche führen und die sich um die Wörter 'vir' und 'wer', wie im Werwolf, gruppieren. Der Werwolf ist der Mannwolf. Im Altindischen heißt virá-h 'Mann, Held'. Die Virilität ist die Mannhaftigkeit, wie auch wörtlich die Virtuosität, was aber auf die meisterhafte Könnerschaft, das Können des männlich Seienden im Umgang mit Seiendem hinweist, wie auch auf die Tugendhaftigkeit und Tüchtigkeit des männlich Seienden, die virtu. Wersein läßt sich durch die Etymologie übersetzen als virtuos, mannhaft, tugendhaft, heldenhaft sein - und damit auch als wehrfähig. Der ausgezeichnete, mannhafte, könnende, tüchtig-tugendhafte männlich Seiende ist Wer. Bloßer etymologischer Zufall? Nein, der vorzügliche Mensch ist in der Tradition sowie heute immer noch der mannhaft-männlich Seiende, der etwas kann und so im Offenen heraussteht.
Deshalb wenden wir uns nun guten Gewissens der Geschichte des Wortes "Wehr" zu, um die oben genommene Freiheit mit den Wörtern gleichsam zu untermauern - und das in der Weise eines Nachsinnens, einer reflektierenden speculatio, die das Gesagte der Sprache ausdrücklich darlegt. Die Wehr ist nämlich mit dem Lateinischen 'verum' der veritas verwandt, was wiederum ursprünglich mit dem Altlateinischen 'ver'' als verschließendes Tor verwandt ist. Daraus ergibt sich z.B. das Wort vestibulum als der Raum vor dem Tor. Die römische veritas erschöpft sich jedoch keineswegs mit der Bedeutung der verbergenden Verschließenden, sondern - wie Heidegger ausführlich in seiner Parmenides Vorlesung vor Augen führt - bildet das Gegenwort zum falsum, das wiederum mit dem Verb fallere, 'zu Fall bringen' verwandt ist. Imperial-römisch, d.h. echt mannhaft, gedacht also, besagt Ver:
in Stand-stehen, in Stand-bleiben, d.h. nicht-fallen (kein falsum), oben bleiben, sich behaupten, das Haupt-sein, befehlen. [1]
Das Sichbehaupten des römischen Reichs und später der römischen Kirche personifiziert sich im Sich-behaupten und Oben-bleiben des römischen Kaisers und des Papstes, der männlichsten aller männlich Seienden und der gewichtigsten aller Wer zu dieser Zeit. Diese Personen tragen als männlich Seiende das ganze Gewicht des römischen Imperiums bzw. der römisch-katholischen Kirche und erfüllen in ausgezeichnetem Maß die Erfordernisse des 'als-Wer-zu-sein': sowohl der Kaiser als auch der Papst sind Wer im unübertrefflichen Sinn als die Obersten eines ganzen Imperiums. Ihre Wahrheit (unverborgene veritas und In-der-Lichtung-stehen und damit Wehrfähigkeit und Wehrheit; vgl. Kap. 8) liegt in ihrem wehrhaften Obensein als höchstem Wer. Sie besetzen die Lichtung der polis auf der obersten Spitze, sie sind die wahrsten männlich Seienden und die wehrhaftesten Wer. Wahrheit - Wer - Sein bilden ein festgefügtes, intimes Dreieck - wie auch ein peinliches Pudendum. Wahrheit und Wehrfähigkeit (Macht) sind auch miteinander verschränkt, aber dies ist eine abgeleitete Bestimmung aus diesem Dreieck.
Wer zu sein, heißt demnach in einer Hinsicht "sich wehren können" im Sinne von: seine Identität (Selbigkeit) den Anderen (heteroi) gegenüber (und auch sich selbst gegenüber) behaupten und aufrechterhalten, womit dann "werlos" und "wehrlos" sich in der gleichen Bedeutungsdimension (der unständigen, womöglich zuweilen suizidalen Unsicherheit) ansiedeln. Es heißt zugleich: Die Wahrheit des männlich Seienden als Auftrag des Seins liegt darin, als genannt-wehrender Wer in der Entborgenheit des politischen Miteinanderseins im Umgang mit den Seienden wesen zu können und zu müssen. Vom Sein her gesagt bedeutet Mannhaftigkeit: Standhalten im könnenden Umgang mit Seiendem trotz aller widrigen Umstände und gegen die Anderen. Wer Raum in der Mitwelt einnimmt, muß sich wehren können. Die Identitätslarven einschließlich der meisterhaften Könnerschaft (Virtuosität) und der standhaften Tugendhaftigkeit (virtu) haben somit die Funktion, den Wer des männlich Seienden zu schützen und zu stützen, als Abwehr zu dienen, und somit eine verschließende Bergung des Eigennamens zu bilden, der von dort aus hervorragen kann. Nur so ist der männlich Seiende als solcher da. Deshalb antwortet Nietzsches Wanderer, wenn danach gefragt, was er zur Erholung braucht: "Eine Maske mehr! eine zweite Maske!"[2]
Das geschickte, tüchtige Hantieren mit Identitätslarven muß sich also mit einer Verteidigung und Befestigung des Wer verbinden, wodurch dem männlich Seienden die Möglichkeit des mannhaften Wesens (Werwolf ohne Wolf) gegeben ist. Wie es weiter um das Sichwehren(müssen) des Wer bestellt ist, wird ausführlicher in Kap. 4-5 thematisiert werden.