kaum ständig noch

Phänomenologie der Männlichkeit als Wersein


Michael Eldred


artefact text and translation
Cologne, Germany


2. Männlichkeit als Wersein

e) Der Larvenwer


Version 2.1 July 1996
e-mail: artefact@t-online.de

Inhaltsverzeichnis dieses Kapitels


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    2. e) Der Larvenwer

  1. Die Alltagssprache redet vom Wer auch als einer (genannten) Person. Was besagt das Wort 'Person'? "Person", so entnehmen wir dem Herkunftswörterbuch, entstammt dem Lateinischen und heißt ursprünglich "Maske eines Schauspielers". Kann es bloßer etymologischer Zufall sein, daß dieses Wort für "Maske eines Schauspielers" dem Menschen im Allgemeinen übertragen wurde, oder zeigt diese Übertragung etwas Wesentliches am Menschenwesen an? Der männlich Seiende als Wer kann grundsätzlich schauspielern, sein Seinkönnen ist wesenhaft durch das Schauspielern charakterisiert. Das Schauspielern wiederum ist nur möglich aufgrund der Möglichkeit, der Welt ein Gesicht als Maske zu präsentieren, als Maske zu erscheinen, eine Möglichkeit, welche ihrerseits noch eine Differenz zwischen dem Eigennamen und seiner Maske voraussetzt. Erst diese Differenz erlaubt es, daß der männlich Seiende nicht an einen fixen Wer der Welt und sich selbst gegenüber gebunden ist, sondern eine Distanz - die Distanz des Selbstbewußtseins - zu sich selbst hat und mit Masken hantieren kann. Wir nennen die Masken, die der männlich Seiende als seine eigenen präsentiert, Larven. Es besteht eine Verbindung der Selbigkeit zwischen dem männlichen Eigennamen und den verschiedenen Larven, die der männlich Seiende als seine eigenen, schau-spielerisch, spielerisch zur Schau tragend, präsentiert. Diese Verbindung kann als eine Identitätsverbindung bezeichnet werden, da der männlich Seiende sich als Wer in seinen verschiedenen Larven findet. Das Spielerische am männlich Seienden überhaupt - so läßt sich homo ludens übersetzen - liegt in seiner wesenhaften larvenspielenden Verdopplung. Die Distanz zu sich selbst bzw. zu seinen Larven erlaubt ihm ein Spiel mit seiner Identität. Der männlich Seiende als Wer-Person west als larvenhantierend; er larviert mit seinen zur Verfügung stehenden Larven. Das Larvieren ist das geschickte Hantieren mit Larven, eine Maskerade, die des öfteren dem männlich Seienden hilft, sich im Freien der Lichtung durchzulavieren.

  2. Was den männlich Seienden vom Schauspieler unterscheidet, ist, daß er sich selbst als Selbst in seinen Larven findet, während der Schauspieler mit seiner Rolle nicht identisch ist, er geht darin nicht gänzlich auf. Für den Schauspieler bleibt die Larve heteros, während für den männlich Seienden sie autos ist, sofern er letztlich durch eine Selbstironie die Distanz zu sich selbst nicht durchgängig aufrechtzuerhalten vermag. Irgendwann wird es um die eigene Identität ernst; sie muß innerlich gesetzt werden. Diese notwendige letztendliche Identitätsverbindung gibt die Berechtigung, von einer Larvenpräsentation auch sich selbst gegenüber zu sprechen und nicht bloß der Mitwelt gegenüber. Die Identität der männlichen Person setzt sich also zusammen aus einer Vielfalt von Identitätslarven und besitzt deshalb die Struktur eines Larven-Kompositums. Die Identität als Wer besteht in der Selbigkeit des Eigennamens und der Larvenvielfalt, in der der männlich Seiende mehr oder weniger distanzlos, selbstironisch oder bierernst, sich mit sich selbst verwechselnd, aufgeht und erscheint. Eine Distanz gegenüber den eigenen Larven einzunehmen heißt, sich ironisch oder selbstironisch zu verhalten.

  3. Was beinhaltet genauer eine Identitätslarve? Zum einen gehört sie zum gewohnten Verhaltensrepertoire eines männlich Seienden, womit er eine Haltung, eine hexis, als seine eigene sich vormacht. Zum anderen vertritt er diese Haltung Anderen gegenüber und erscheint durch die Larve hindurch als mit einem bestimmten Aussehen versehen, das in der anblickenden Mitwelt eventuell ein Ansehen erregt. Die Identitätslarve als Haltung und Pose wird von den Anderen angesehen und erblickt wie im Theatrum, im Ort des Blickens. Sich selbst gegenüber spiegelt das Verhalten einer Larvenhaltung den Wer der männlichen Person wider. Der männlich Seiende verhält sich - zumindest als Tagesdasein - ständig und immer als das Sichvormachen eines Aussehens wie..., nicht unbedingt als Selbsttäuschung seiner 'echten' Identität - wie das Wort Pose nahelegt -, sondern grundsätzlich als das Sichhalten in der Haltung eines Identitätsverhältnisses zwischen Eigennamen und Verhaltenslarven. Das heißt unter anderem, daß die Larven nicht lediglich bewußt-gewollt, als Manier subjektiv-souverän zu bestimmten Zwecken willentlich eingesetzt werden, sondern fundamentaler, daß, um als Wer zu wesen, der männlich Seiende sich immer schon in einer larvenhantierenden Verhaltensweise befindet, wo sein Name, und sei es nur für sich selbst, zählt. Sowohl mit der unechten Pose als auch in der echten Haltung setzt sich der männlich Seiende in Positur und in einen Stand sich selbst sowie den anderen gegenüber; sein Verschweißtsein mit Larven ist sowohl Ekstase (Herausstehen) als auch Enstase (Nach-innen-stehen).

  4. Durch die Verbindung mit Identitätslarven entwirft der männlich Seiende die Idee seiner Selbst, sofern Idee "Anblick" heißt. Sich selbst sowie der Mitwelt gegenüber erscheint die Identität als Larve bzw. als Larvenvielfalt, woraus sich sowohl das Selbstverständnis als auch das Verständnis durch die Anderen speist. Voraussetzung dafür, daß diese Identität als unverwechselbar erscheint, ist die innige Verbindung mit dem Eigennamen, durch den jeder als Einzelner gerufen wird. Damit fungiert der Eigenname als die schmale Schnittstelle zwischen dem intimsten Selbst und der Welt der Erscheinungen, in der der männlich Seiende einen Anblick von sich bietet. Die Larven sind dabei die Art und Weise, wie der männlich Seiende erscheint.

  5. Das Sichverhalten in Haltungen ist zugleich ein Sichgebären in Gebärden. Die althochdeutsche Wurzel zu Gebärde heißt: "tragen". In der Gebärde trägt der Wer eine Larve. Gebärde kommt aber zugleich aus dem althochdeutschen gibarida: "Benehmen, Aussehen, Wesen". Das Wesen des männlich Seienden als Wer ist ein Sichgebären als Tragen einer Larve, wobei er aussieht wie... Sein Aussehen wie... in der Bewegung der Gebärde ist kein bloßer 'Ausdruck' einer 'inneren Empfindung', sondern sein Wesen als Wer selbst. Ein inneres Selbst, das im Sichgebären und Sichverhalten nur zum Ausdruck kommt, gibt es nicht. Der Wer ist wesenhaft 'draußen' bei seinen Larven - und insofern distanzlos -, selbst sein In-sich-stehen ist Ekstase, da gibt es keinen eigentlichen Ort eines larvenlosen Selbst, sondern höchstens ein Versinken ins namenlose Unsagbare oder umgekehrt ein Verstellen durch das Präsentieren unechter Larven, mit denen der männlich Seiende sich eben nicht identifiziert.

  6. Das Sichgebären des männlich Seienden beschränkt sich nicht auf Taten, sondern schließt auch und vor allem das, was der männlich Seiende in Worten von sich gibt, ein. Zu den Larven, auf deren Tragen er sich selbst versteht sowie sich mit ihnen unter dem Anblick der anderen gebärdet, gehören auch und vor allem die Meinungen und Ansichten des männlich Seienden. Die Meinungen stehen in einem Selbigkeitsverhältnis zum männlich Seienden dadurch, daß er sie als seine eigenen betrachtet. Es sind seine Überzeugungen, mit denen er sich und die anderen von sich überzeugt. Mit ihnen zeigt er, was er von bestimmten Sachen hält, wie das Seiende ihm erscheint, und verschafft sich dadurch einen Halt unter den Seienden. Sein Dafürhalten ist eine Erscheinungsweise seiner selbst, womit er sich sowohl zu sich als auch zu den anderen verhält. Wie er eine Sache sieht, seine Ansicht über die Sache, zeigt, was für ein Wer er ist. Seine Meinungen können ein Gewicht haben oder gar nicht ins Gewicht fallen, je nachdem, welcher Wer er ist.

  7. Auch (und vor allem) philosophische Positionen und fundierte wissenschaftliche Ansichten sind Haltungen und damit Larven. Auch sie bieten einen Halt - heute noch vermutlich einen der sichersten und besten. Die Denker haben bisweilen die beeindruckendsten Larven zur Schau getragen, sonst wäre die Gestalt des Philosophen nicht so begehrt unter den Männern. Der Philosoph ist Wer, weil er etwas Gewichtiges zu sagen hat, etwas, das mehr Gewicht als jeder andere Diskurs beansprucht, schwere Worte, die Aufmerksamkeit erheischen. Diese logoi können mit dem Umfeld aufräumen und aus dem geräumten Feld emporragen, und damit den verbundenen Eigennamen in einem vorzüglichen Glanz erscheinen lassen. Deshalb werden die Worte der Philosophen gedruckt. Gedruckte Worte verlangen eine besondere Aufmerksamkeit und beanspruchen ein besonderes Gewicht. Hinausgeschickt und verbreitet in die Lichtung der Öffentlichkeit stellen sie einen der gewichtigsten Wege dar, diesen Raum namentlich zu erobern. Diejenigen, die Wer in großartigerem Sinn werden wollen, bemühen sich darum, ihre Worte drucken zu lassen und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit darauf zu lenken. Zeichen werden zu Papier gebracht, bedeutungsvolle, bedeutungsgeladene, in der Hoffnung, daß gerade sie aus den wuchernden Bücherwäldern emporschießen. Damit ist freilich nichts Neues gesagt; jede/r weiß es. Solche Trivialitäten sollten aber heute zu denken geben.

  8. Die - zuweilen selbstironische - Distanz zu bestimmten Larven auf der einen Seite wird durch eine unausweichliche, wesenhafte, identitätsstiftende Verschmelzung mit bestimmten Larven auf der anderen Seite gleichsam ausgewogen. Das Larven-Kompositum besteht daher aus einem Repertoire der Verhaltensweisen und Haltungen, in denen sich der männlich Seiende tagsüber stets und ständig in der einen oder der anderen befindet. Wer zu sein heißt, eine Rolle spielen und sich selbst darin finden zu müssen. Die larvenhafte Verhaltensweise spiegelt den Wer nur dadurch wider, daß der männlich Seiende als Eigengenannter sich selbst in der Welt als vorgestellter Larve gegenübersteht. Dieses Gegenüberstehen gründet in einem ursprünglichen Außer-sich-stehen des Wer in einem Selbstverständnis. 'Ursprünglich' heißt hier, wie immer, nicht ein zeitlich-gewesener Ursprung[1], sondern die Fundamentalität der ontologischen Struktur des Wesens als Wer als selbst-verstehend larvenhaft. Männlich Seiender zu sein erfordert ein Fundament, einen Grund, auf dem der männlich Seiende stehen kann. Daß dieses Fundament als eine Larvenvielfalt immer ein fingiertes, vorgemachtes ist, ist kein Einwand. Das Wersein ist ein Pudendum, das erst in einem Nachspiel, vielleicht in einem Alkibiadischen Satyrspiel in der Philosophie angesprochen werden kann. Sich als Wer verstehen heißt, ständig namhaft außer sich stehen in einem Stand und einer Haltung in einem namhaften Verhältnis zu sich selbst. Der männlich Seiende, sofern er als Wer, d.h. männlich, west, steht ontologisch-ursprünglich in einer Welt, nur sofern er sich selbst als vorgestellter Identitätslarvenvielfalt gegenübersteht. Der Bezug zum Sein in der Lichtung des Da ist für den Wer kein namenloses Offenes, keine reine Offenständigkeit mitten im Offenen des Seins, sondern immer schon durch die Eigengenanntheit und die Gehaltenheit zu den eigenen Larven ausgezeichnet. Diese ontologische Struktur der Identität ermöglicht erst alle ('bewußte') Mimesis und Darstellerkunst.

  9. Die Struktur des Da als Wersein zeichnet sich also durch eine Identitätsstruktur aus: Der Eigenname als Wer-Kern steht in einem Verhältnis der Selbigkeit zu seinem Larven-Repertoire. Dieses Verhältnis hängt nicht vom Bewußtsein oder Selbstbewußtsein eines (selbstherrlichen) Ich ab, sondern umgekehrt: das Selbstbewußtsein als Reflexion eines Ich stellt eine besondere Gestalt der Verdopplung des männlich Seienden als Wer in Eigennamen und Larvenhaltungen dar, die die Eigengenanntheit ausblendet, als wäre sie unwesentlich, nicht-ursprünglich. Das Selbstverständnis, genauer: das Seinsverständnis des Selbst ist aber immer schon namenhaft und larvenhaft, und Larvenhaftigkeit als primärnarzißtisches Selbstgefühl (Nietzsche würde dies 'Wille zur Macht' nennen) kreist um den selbstaffektierten Eigennamen. Ich als ich selber da zu sein in der Welt heißt, einen eigenen Namen zu tragen, der zugleich meinen Zutritt zur (Mit-)Welt ermöglicht. Es reicht nicht, ein Bewußtsein von sich selbst zu haben, d.h. Selbstbewußtsein zu sein, sondern das Selbstbewußtsein muß sich selbst als Selbst erfassen, und es tut dies in der einzigartigen Verbindung zu seinem eigenen Namen. Erst durch die Eigengenanntheit ist das Ich unverwechselbar, durch sie versteht das Ich sich selbst als Ich im Unterschied zu allen anderen.

  10. Die beiden Strukturmomente der Eigengenanntheit (als Konstitutionsdimension des Wer-Kerns) einerseits und der Larventrägerschaft andererseits ergeben eine weitere, noch vor-läufige Antwort auf die Frage nach dem männlichen Sein als Wer.



      Anmerkungen 2. e)


    1. D.h. die hier angestellten Überlegungen kommen vor jedweder (in der Dimension der linearen Zeit erklärenden) Theorie der Entwicklung des Subjekts als Ich (z. B. in der sog. Spiegelphase), die vielmehr die hier umrissene Seinsstruktur als unhinterfragt voraussetzt. Back

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