Copyright (c) 1985-1996 by Michael Eldred, all rights reserved. This text may be used and shared in accordance with the fair-use provisions of U.S. copyright law, and it may be archived and redistributed in electronic form, provided that the author is notified and no fee is charged for access. Archiving, redistribution, or republication of this text on other terms, in any medium, requires the consent of the author.
3. i) Ende der Geschichte?
Ausweglos, trostlos, gottlos, richtungslos kommt das metaphysische Menschenwesen ans Ende, ohne tragisches Pathos einzuläuten und ohne die Aussicht auf eine wahrheitsstiftende Imaginisierung in ein eigentliches Selbstbild, die der Entlarvung und der Verpuppung des Wer folgen soll. Auch ohne die Hoffnung auf einen anderen, großen Anfang, den Heidegger noch in Sicht - und zwar kraft einer geschichtlichen Entscheidung - gestellt wissen wollte? Welcher Art wäre die Größe eines anderen Anfangs? Könnte es eine Imaginisierung des Menschenwesens geben als Sprung in den anderen Anfang, als Gründung des Da? Dies sind Fragen, die sich nicht ohne weiteres beantworten lassen, sondern eher ratlos stimmen. Woher nimmt man einen Faden, um eine Antwort zu finden? Der verpuppte Versager als Wesensgestalt des Menschen-am-Ende deutet die Erschöpfung zumindest der metaphysischen Wesensmöglichkeiten an, es gibt nichts Höheres und nichts Niedrigeres, an das sich der Mensch als Wahrheit unbedingt halten könnte. Am Ende der Geschichte taumeln die verschiedenen Möglichkeiten des Menschseins durcheinander, vor allem unter der offenen oder versteckten Leitung des Willens zur Macht über das Seiende. Ermüdung, Erschlaffung überkommt den metaphysischen Geist, der einst zum Höhenflug einer durch die Vernunft regierten Welt ansetzte. Nietzsche hat als erster die Entlarvung, die Verpuppung des Geistes vollzogen; nach und mit ihm sind die Ideale ins Nichts gestürzt. Wir taumeln. Es ist höchstens noch ein Aufschub möglich, ein deferment, ein Wohnen unter den Trümmern der gestürzten Ideale. Ohne besser, ohne schlechter zu werden, geht die Welt, durchkreuzten Wegzeichen folgend, ihren Gang. Die Maschine läuft und wirbelt das Seiende rastlos auf. Bleibt der männlich Seiende männlich? Wenn das Wersein die formale Bestimmung des Mannseins ist, dann steht nichts im Wege, daß nach der Ausleerung jeglichen idealen Inhalts aus dem Menschenwesen das Wersein als Möglichkeit einer männlichen Wesung bleibt. Der männliche Mensch ist dann der Übermensch, der seinem Willen zur Macht über Seiendes folgt und nach dem Erhalt und möglichst der Steigerung derselben strebt; er besetzt die Lichtung und zeigt, was er kann und wer er namenhaft ist. Der Versager dagegen deutet eine andere, schwache Figur an, die den Willen zur Macht nicht mehr aufbringt und die dem ständigen Sein entkommt ins 'ich bin'. Shall we follow him? "Shall we follow the deception of the thrush? Into our first world."[1] Dies bedeutete, dem Sein in seinem Entzug aus der Ständigkeit und des Zustandebringens zu folgen, vorausgesetzt, es könnte sich das Sein anders als ständige Anwesung geben. Dann gälte es, nach einer Andersartigkeit des Sichgebens des Seins zu fragen.
Kann es den wahren männlich Seienden, der seine falschen Larven abgestreift und dadurch seine wahren Masken in einem Vorgang der Imaginisierung angenommen hat, geben? Wenn die Wahrheit des Selbst ein beständiges Selbstideal voraussetzt, an das es eine Angleichung und Annäherung in der Zeit geben könnte, wie z.B. im christlichen Glauben die Wahrheit und damit sich selbst als ein Geschöpf Gottes in der Entsprechung zu seinem Willen zu erlangen war, dann gibt es in der Tat kein wahres Selbst, denn gerade die Beständigkeit des Seins ist fragwürdig geworden. Es gibt am Ende der metaphysischen Geschichte keine wahren oder falschen Existenzentwürfe - sowohl als erfolgreicher Wer wie auch als weltentsagender Versager ist der männlich Seiende immer sich selbst, er entwirft sich jeweils aus einer Nichtigkeit heraus inmitten der Endlichkeit seiner Existenz. Eine Imaginisierung setzte voraus, es gäbe wahre, richtige Gesichter, eigentliche Haltungen und ethische Verhaltensweisen, zu denen man sich mühsam durchringen könnte. Nicht aber werden dem Wer in der Verpuppung falsche Larven entrissen, damit er dann in der 'Wahrheit' nackt, d.h. unverstellt, dastünde, damit er 'wahrer' würde, damit er sich selbst in seiner Eigentlichkeit näher käme. Gibt es denn nichts an den Larven, das als falsch zu kritisieren wäre, gibt es keine Annäherung an die Wahrheit über sich selbst als eine Art Angleichung, sondern nur verschiedene, mehr oder weniger erfolgreiche Weisen, sich selbst im Besorgen von Seiendem zu entwerfen? Hat die griechische Maxime gnothi seauton denn überhaupt noch einen Wahrheitsgehalt?
Das Selbst muß von der Endlichkeit und Nichtigkeit der Existenz her gedacht werden. Das heißt, daß der Wer sich selbst aus dem Nichts und angesichts seiner Geworfenheit und seiner Endlichkeit entwerfen muß. Für diesen Selbstentwurf gibt es keine Vorgaben, aber trotzdem ist nicht alles egal, denn der eine Weg, den ich wähle, schließt einen anderen oder andere aus, was Anlaß zur Reue oder zum Bereuen aus welchem Grund auch immer geben kann. "Down the passage which we did not take, Towards the door we never opened..."[2] Reue kann es nur geben, weil ich gewesen bin. Ich habe meine individuelle Vergangenheit, besser: Gewesenheit, die immer bei mir ist. Auch wenn es für meine Existenz keine Vorgaben gibt, muß ich sie als eine endliche gestalten, die sowohl eine gewesene Existenz mit sich mitnimmt, als auch den eigenen, unabtretbaren Tod vor sich hat. Bei jeder Wendung meiner Existenz kann ich mich mit Blick auf meine individuelle Gewesenheit und Zukunft sammeln und mich jeweils entwerfen, d.h. mich selbst wählen und gestalten. Das bedeutet alles andere als ein beständiges Selbst, das ich nach und nach im Laufe meiner Existenz entlarve, denn es muß keine Kontinuität, d.h. Beständigkeit, des Selbst geben. Ich bin jeweilig ich Selbst aus der Jeweiligkeit meiner individuellen Existenzlage. Ich entreiße mir meine Werlarven nur insofern, als ich mich aus der Vorgegebenheit meiner Lage zurückziehe und zusammenreiße, mich sammle, um mich aus dieser jeweiligen Lage neu zu entwerfen. Mein Selbst ist damit selber ein schwankendes Gebilde, das jeweils aus meinen Entwürfen entsteht, die wiederum aus meiner Geworfenheit und insbesondere meiner jeweiligen Befindlichkeit gewonnen sind. Und wenn ich mich als Selbst jeweils und je-weilig gewinnen kann und muß, kann ich mich selbst auch immer wieder verlieren. Ich bin ich Selbst nur insofern, als ich mich in einer Situation meiner Existenz sammle und mich daraus neu entwerfe. Im Selbstentwurf liegt somit ein gewisses Vermögen, sich über die eigene jeweilige Geworfenheit hinwegzusetzen, um die eigene Existenz zu schmieden. Selbst bin ich also nicht ständig, sondern nur aus den Augenblicken heraus, in denen ich mich zu sammeln vermag. Die Rede von einer möglichen Imaginisierung ist deshalb irreführend, weil sie eine endgültige Gestalt des Selbst und eine Annäherung an diese suggeriert, wohingegen das Selbst sich jeweils augenblicklich gewinnen muß, wenn überhaupt, um sich dann immer wieder im alltäglichen Trott zu verlieren. Die Sammlung des Selbst heißt, sich aus der Vorgegebenheit der eigenen Lage durch einen Rückzug befreien, um aus dieser Sammlung die eigene Zukunft selber zu gestalten. Wer ich selbst bin, ist kein Prozeß einer Selbstannäherung im Lauf meines Lebens, sondern Selbst bin ich jeweils aus existenziellen Lagen heraus, in denen meine Existenz zur Entscheidung steht. Eine solche Sammlung auf mich selbst bedeutet, daß ich mir die Selbstverdeckungen entreiße, die die äußersten Möglichkeiten meiner Existenz verstellen und unsichtbar machen, aber das Selbst, das dabei entdeckt wird, ist nicht, d.h. es ist keine Substanz, kein Kern, kein Seiendes, das ständig anwest und nur aufgedeckt zu werden braucht. Vielmehr ist die Selbstgewinnung ein individuelles Ereignis, das sich aus der Sammlung in einer Situation ereignet. Das Selbst ist eine Konstellation, die sich augenblicklich bildet und sich wieder auflöst.
Wie löst sich genauer das Selbst auf? Die Werlarven sind Haltungen und Verhaltensweisen des Wer, die zugleich als Anhaltspunkte des Selbstverständnisses dienen. Es geht darum, i) wie der Wer erscheint, wie er sich in der Welt, in der Offenheit der Lichtung der Mitwelt, zeigt, ii) wie er sich in seinem Sichzeigen versteht und iii), wie er in seinem 'ich bin' sich nicht versteht. Selbstverständnis ist Selbstentwurf, ist Entwurf von Existenzmöglichkeiten. Die Werlarven sind als Selbstentwürfe, als Entwürfe des Selbstverständnisses haltgebend, sie verleihen dem Wer eine seinsbedingte Beständigkeit. Nicht nur gewinnt der männlich Seiende einen Halt in der Welt, indem er sie bzw. Seiendes in seinem Verweisungszusammenhang versteht, sondern auch und in einem damit versteht er sich selbst dabei aus diesem Verständnis von Seiendem. Weltverständnis und Selbstverständnis bilden zwei Seiten ein und derselben Medaille. Die Verpuppung ist also ein Verlust an Halt, bei dem das Selbst- und Weltverständnis einem abhanden kommt, bei dem es auf einen Punkt des Nichtverstehens und a fortiori des Nichtseinkönnens, d.h. der Ohnmacht, schrumpft, wo die Welt als ein Zusammenhang von Seienden und damit der Wer selbst ihm selber bedeutungslos und wertlos vorkommt. Die Sammlung auf sich selbst hat sich mit der Auflösung des Seinsverständnisses durch den Überfall der Gestimmtheit verflüchtigt, der Wer findet momentan keinen Anhaltspunkt in der Welt unter den Seienden. Es ist nämlich das Verstehen, welches das Seiende als solches zuerst sein läßt, indem es das Seiende in den Schemata der Kategorien beständigt. Metaphysisches Sein ist Beständigung des amorphen Chaos, das selbst wiederum als solches nur stimmungsmäßig und nie verständnismäßig erschließbar ist. Diese Beständigung des Seienden als solchen im Seinsverständnis ist zugleich Beständigung des Selbstverständnisses und Gewinnung des Selbst aus dem Bezug zum Seienden als solchem. Das Versagen vor dem Sein als ständiger Anwesung deutet jedoch auf eine andere Dimension, die vor der Beständigung des Selbst im Selbst- und Weltverständnis liegt, die im 'ich bin' zum Ausdruck kommt, und der es in späteren Kapiteln noch nachzugehen gilt. Das Sein selbst, das in seiner Unerschöpflichkeit nicht endgültig ans metaphysische Sein gebunden bleibt, öffnet womöglich andere Möglichkeiten des Selbstseins. Es bleibt zu fragen und die Frage offen zu halten, wie der Wer in der Lichtung einer anderen Wahrheit des Seins weste, die nicht eindeutig auf die Entbergung von Seiendem als solchem ausgerichtet wäre, damit das Ende der Geschichte vielleicht doch Übergang sein könnte, ohne jedoch Überwindung zu sein.
Nachdem die höheren Werte sich entwertet haben, nachdem es dem Menschen aufgegangen ist, daß es keinen Zweck, keine Ordnung hinter den Erscheinungen, keine Wahrheit und keine Alternative zur hiesigen Welt gibt, erscheint die Welt, wie Nietzsche sagt, als wertlos. Die Wertlosigkeit der Welt zeichnet den Nihilismus aus, für den Alles Nichts ist. Dagegen setzt Nietzsche den Willen zur Macht, die Bejahung des Lebens, eine letzte Antwort, um die Welt wertvoll erscheinen zu lassen und damit das Leben lebbar. Wie die Griechen schon wußten, ist es schön, oben im Lichte zu verweilen statt unten in Hades.
Dies Licht der Sonne schauen ist dem Menschen das Süßeste, In der Unterwelt aber gar nicht. Rasend, wer zu sterben wünscht! Schlecht zu Leben besser als schön zu sterben!...Nicht mehr mein das Licht, Nicht dies Scheinen der Sonne. (Iphigenie in Aulis, 1251f, 1281f)
Die Welt, wie sie ist, in ihrem heutigen Zustand ist in gewissen Stunden zum Verzweifeln. Und dennoch! Und wenn es nur ein Lüstchen für den Tag und ein Lüstchen für die Nacht wäre! Gefährlich ist es als Philosoph zu meinen, man könnte die Richtung in eine bessere Welt weisen, einen neuen, anderen Sinn stiften. Höchstens etwas Schönes, etwas Denkwürdiges hinterlassen, schon dies ist ein hoher Ehrgeiz. Nachdem auch der Wille zur Macht als leere Selbstüberbietung des Subjekts enthüllt wurde, bietet der Sprung in das Nachdenken des Ereignisses und die Möglichkeit der Dagründung einen Ausweg? Oder ist unsere Not die Notwendigkeit, uns in der Ausweglosigkeit der Geschichte unter und mit den verschiedenen Versatzstücken der abendländischen Tradition einzurichten?
Gesetzt, wir, heutige Menschen, müßten ohne Höheres auskommen, gibt es noch eine Möglichkeit, daß die Menschen zumindest miteinander auskommen? Gibt es Chancen für so etwas wie eine kommunikative Vernunft? Oder ist die kommunikative Vernunft in der Subjektität noch zu sehr verwurzelt? Und wenn die Vernunft sich endgültig ausgeschöpft hat, gibt es andere, noch unerprobte geschichtliche Möglichkeiten des Mitseins? Angesichts der Unwägbarkeiten des Mitseins als des dem Menschen Schwierigsten, ist hier die Rede von einem "zumindest" nicht völlig fehl am Platz? Kann etwa die Menschlichkeit, eine Art der Humanität noch als Richtungswert dienen? Ist der andere Mensch ein Seiendes, bei dem geschichtliche Wahrheit einer anderen Art noch zu finden wäre? Sind die geschichtestiftenden Möglichkeiten der Demokratie - einer bestimmten Ausformung des gesellschaftlichen Mitseins - bereits ausgeschöpft? Bedeutet Heideggers Brief über den 'Humanismus' die endgültige Erschöpfung jeder Möglichkeit einer Humanität des Menschen als ethisches Richtmaß? Diese großen Fragen können hier nicht behandelt werden - lediglich das Miteinander der männlich Seienden wird später eigens in den Blick gerückt (Kap. 5) und der phallische Charakter des Seins vor Augen geführt (Kap. 8).
Erleben wir heute eine geschichtliche Abendzeit der Verpuppung, der Entblößung des spezifisch männlichen Subjekts? Worin genau bestünde die geschichtliche Entlarvung des Wer? Käme nach einem genügend schmerzhaften Zeitalter der Verpuppung eine neu heranbrechende Epoche des 'wahren' 'Imago-Wer' auf? Etwa ein anderer Anfang? Die Wahrheit als Richtigkeit, als Angleichung zwischen Denken und Sache reicht freilich nicht mehr aus, um die Wahrheit und die Unwahrheit des männlich Seienden zu denken, und insofern gibt es keinen Imago-Wer, keinen wahren männlich Seienden, der in der Lichtung als ein richtiger dastünde. Ist aber das Wersein selbst als Seinsweise der Entborgenheit - in allen seinen Varianten - in einem noch nicht tief genug gedachten Sinn unwahr geworden und hebt an, sich zurückzuziehen? Auf welche Weise wäre ein solcher Rückzug für die männlich Seienden erfahrbar? Bietet die Gestalt des Versagers wirklich einen Fingerzeig für den Rückzug des Seins als Ständigkeit? Die Ausführungen in diesem Kapitel zum 'ich bin' deuten bereits auf eine Wandlung in der Wahrheit des Seins in die Richtung eines Diesseits oder eines Jenseits des Seins als Beständigung des Seienden, eines Neben dem Sein als ständigem Anwesen. Der Wandel im Wesen der Wahrheit erschöpfte sich nicht darin, die Beständigkeit des Ich aufzulösen, sondern beträfe den Horizont, von dem her der Mensch in seinem Wesen bestimmt wird. Was wäre die Rolle des Denkens angesichts einer solchen vermuteten Epoche des Entzugs des Seins als ständiger Anwesung? In einem Nachdenken in der Weise Heideggers über einen letztlich vom Ereignis der Seinsgeschichte selbst vereigneten Weltzustand - als Folge eines gewandelten Wesens der Wahrheit - könnten wir erwarten, tiefer in den Abgrund solcher Vermutungen hinabsteigen zu können. Oder reicht die Konzeption einer Seinsgeschichte nicht mehr aus, um unsere geschichtliche Lage zu fassen? Solche Vermutungen sind freilich keineswegs als apokalyptische - wenn auch doch als enthüllende - Andeutungen zu verstehen, nicht als eschatologische Anmerkungen noch als Mahnungen oder Voraussagen, geschweige denn als Prophezeihungen. Vielmehr handelt es sich um Erschütterungen von Seinsgestalten, die womöglich neue geschichtliche Öffnungen freigeben.
Die Fragen häufen sich und finden freilich zunächst keine unmittelbar zufriedenstellenden Antworten. Aber es reicht wohl schon aus, wenn die Fragen vorläufig lediglich im Raum stehen, in der Gegend, die den Denkweg umgibt und so das Denken erst ermöglicht und lockt und nötigt voranzugehen.