Ein Leben lang leben lernen
2000 Jahre Seneca und
die Philosophie der Stoa
5. ars vitae als ars moriendi
Astrid Nettling
artefact text and translation
Cologne, Germany
Version 1.0 Mai 1996
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Inhaltsverzeichnis
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5. ars vitae als ars moriendi
Sprecherin (1)
- Fast ist es abgeschlossen, das Bild des Lebens, das Seneca uns hinterlassen hat. Aber noch gilt es, ein Letztes zu tun. So wie auf manchen alten Bildern ein Stück der Oberfläche gelüftet wird und den Blick dahinter auf ein im Grunde Undarstellbares freigibt, so ist noch jenes "memento mori" in den Blick zu nehmen, das "Gedenke des Todes", das dem Werk Senecas eingeschrieben ist.
Sprecher (2)
- Denn der Mensch als das Kind der Sorge hat zu sterben. Trügerisch verschleiert ist das Wann, die Stunde des Todes, während doch der Tod selbst den Menschen vom ersten Augenblick an innewohnt. Der Tod, der als das Fremdeste seinen Schatten über das Leben wirft und zugleich zu ihm gehört wie das Atmen oder Wachsen. Schon im ersten Brief an Lucilius erfahren wir, daß wir täglich sterben. Vor dieser Wahrheit sich zu verschließen, ist reiner Selbstbetrug. Seneca schreibt: "Darin nämlich täuschen wir uns, daß wir den Tod vor uns sehen: ein großer Teil davon ist bereits vorbei."
Sprecherin (1)
- Ein Trug, dem der Mensch nur allzu gerne aufsitzt, wenn er sich einredet, daß der Tod irgendwann komme oder vielleicht nie, wo er doch immer schon da ist. Ein Trug, der nur die tiefe Furcht des Menschen vor dem Tode zu verschleiern hilft, indem er versucht, den Tod aus dem Leben auszuschließen. Aber auch ihr muß man die Maske abnehmen, dieser Furcht vor dem Tod. Man muß lernen, den Tod in sein Leben hineinzulassen. Seneca schreibt an Lucilius:
Sprecher (2) (Zitat Seneca)
- ... leben hat nicht wollen, wer sterben nicht will. Das Leben nämlich ist unter der Bedingung des Todes gegeben, auf diesen hin geht man: ihn zu fürchten, ist daher die Art eines Unverständigen, weil man auf Gewisses wartet, Ungewisses fürchtet. ... Nicht fürchten wir den Tod, sondern den Gedanken an den Tod; von ihm selbst sind wir nämlich immer gleich weit entfernt. So, wenn zu fürchten ist der Tod, ist er immer zu fürchten: welche Zeit nämlich ist vom Tode ausgenommen? ... Du dennoch, an den Tod, um ihn niemals zu fürchten, denke ständig.
O-Ton Wilhelm Schmid
- Die Prämeditation dieses letzten Moments zu betreiben - prämeditatio mori ist der Fachausdruck dafür -, um mit der Situation sich vertraut zu machen. Nicht im Hinblick darauf, unbedingt todessüchtig zu sein oder irgend so etwas, in gar keiner Weise, ganz im Gegenteil, sich vertraut zu machen mit dem Gedanken erstens, daß man überhaupt von dieser Welt wieder scheiden muß und zum anderen, sich vertraut zu machen damit, wie man diesen Moment dann auch bewältigen kann, so daß es ein würdevoller Moment ist. Dies möglichst früh zu betreiben und das ganze Leben hindurch zu betreiben und keine Angst mehr davor zu haben, um nicht besessen zu sein von dem Gedanken an dem Tod.
Sprecherin (1)
- Darum vor allem heißt es bei Seneca in "De brevitate vitae": "Leben muß man das ganze Leben lernen und, worüber du mehr vielleicht dich wundern wirst, das ganze Leben muß man sterben lernen." Gerd Achenbach:
O-Ton Gerd Achenbach
- Ja, es gibt ja zu diesem zurecht berühmten Satz so viele anekdotische Fortsetzungen, nicht? Durchaus humorvoll melancholischerweise hat ja schon mancher gesagt, ein Leben lang das Leben lernen, und wenn man es halbwegs kann, dann muß man schon anfangen, das Sterben zu üben. Also, es sieht wohl so aus, als wenn es mit der Vollkommenheit, die ja ein vorzüglicher Gedanke ist, nicht soweit her ist, was uns Menschen betrifft. Was nun das Sterben lernen betrifft, etwas, was dann nun wiederum auch Montaigne geradezu zu Programm gemacht hat, Philosophieren heißt sterben lernen, oder was ein Philosoph, der übrigens in Lebenskunstfragen der wahrscheinlich am meist zitierte und erfolgreichste war, nämlich Schopenhauer mit seinen Aphorismen zur Lebensweisheit, dieser Schopenhauer hat gemeint, schwerlich würde auch nur ein Einziger philosophieren, wenn es den Tod nicht gäbe. In diesem Sinne würde ich sagen, ja, sterben lernen, nämlich das unausdenkbar Schlimme, daß unser Leben eines zum Ende ist und daß es für uns alle, je älter wir werden, immer rascher den Lauf nimmt. Dies nicht nur fatalistisch hinzunehmen, sondern sich innerlich darauf zu bereiten. Das ist immerhin ein fast schon Äußerstes. Wir erleidens nicht nur, sondern es trifft uns sozusagen sehenden Auges. Und das ist etwas, womit der Mensch sich selber würdigt. Das hat Hegel auch gemeint, es komme zuletzt und zuerst darauf an, daß der Mensch sein Leben so lebt, daß er sich selber als Mensch würdigt. Und daß das doch vielleicht eine Frage ist, die im Sterbenkönnen kulminiert, das glaube ich auch.
Sprecherin (1)
- Sich selbst als Mensch würdigen durch die Haltung, das Ethos gegenüber dem Sterben. Für Seneca, den Philosophen an der Spitze des Staates und der Macht, bedeutete dies, stets gewärtig zu sein, eines gewaltsamen Todes sterben zu müssen. War er doch Tag für Tag vom Tod umgeben. Jederzeit konnte irgendeiner auf den Gedanken kommen, ihn umzubringen - in einer Zeit, wo nicht viele Menschen eines natürlichen Todes starben. Sich einstellen auf diese Möglichkeit wie auch darauf, im gegebenen Falle sich selbst zu töten. Denn nur ein kleiner Schritt ist es von hier nach dort, ganz in der Nähe ist der Tod, und jederzeit offen steht dieser Weg aus dem Leben.
Sprecher (2) (Zitat Seneca)
- Nicht in der Tiefe verborgen ist die Lebenskraft, und nicht muß sie unbedingt mit dem Schwerte aus dem Grunde zerstört werden; nicht muß man in tiefer Wunde durchsuchen die Eingeweide: ganz in der Nähe ist der Tod. Keine bestimmte Stelle habe ich für diesen Stoß vorbehalten: wo immer du willst ist ein Weg. Eben das, was sterben heißt - die Seele trennt sich vom Körper -, ist zu kurz, als daß man solche Geschwindigkeit wahrnehmen könnte. Mag nun der Hals eine Schlinge zudrücken, mag den Atem Wasser absperren ... , was immer es ist, es geschieht rasch. Schämt ihr euch nicht? Was so schnell eintritt, fürchtet ihr so lange!
Sprecherin (1)
- Dies hatte Seneca in "De providentia", "Über die Vorsehung" geschrieben. Nun war es also an ihm. Nun galt es für Seneca, die Konsequenz eines gewaltsamen Todes so zu tragen, wie er es in seinen Schriften immer verlangt hatte. Hinüberzugehen in aufrechter und klageloser Weise. Aber es wurde ein qualvolles, langes Sterben, das Seneca ertragen mußte - nicht rasch, wie er es sich vorgestellt hatte. Doch auch dies bestand er, ohne zu schwanken. Tacitus berichtet:
Sprecher (2) (Zitat Tacitus)
- Weil Senecas greisenhafter und durch die karge Lebensweise geschwächter Körper dem Blut nur langsam Abfluß ermöglichte, öffnete er auch an den Beinen und Kniekehlen die Adern; und durch die abscheulichen Qualen erschöpft, gab er ... (der Gattin) den Rat, sich in ein anderes Gemach zu begeben. ...; da sich das Sterben noch weiter hinzog und nur langsam vor sich ging, (bat Seneca) Statius Annaeus, der sich ihm schon lange durch seine treue Freundschaft und seine ärztliche Kunst bewährt hatte, das längst vorbereitete Gift zu holen, mit dem die vom Volksgericht der Athener Verurteilten hingerichtet wurden; als man es brachte trank er es, aber ohne Folgen, da seine Glieder schon erkaltet waren und der Körper sich der Wirkung des Giftes verschloß. Endlich stieg er in ein Bassin mit heißem Wasser, wobei er die zunächststehenden Sklaven besprengte und hinzufügte, er weihe dieses Naß Iupiter, dem Befreier. Dann in das Dampfbad gebracht und in dessen Qualm erstickt, wurde er ohne jede Leichenfeier verbrannt.
Anmerkungen 5
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