Ein Leben lang leben lernen
2000 Jahre Seneca und
die Philosophie der Stoa


1: Das Bild seines Lebens


Astrid Nettling


artefact text and translation
Cologne, Germany



Version 1.0 Mai 1996
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Inhaltsverzeichnis


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    1. Das Bild seines Lebens

    Sprecherin (1):

  1. Jetzt also war es soweit. Schon lange hatte er damit gerechnet. Die Reihe war nun an ihm. Jener Wahnsinnige in Rom hatte seinen Tod verfügt. Wohlan denn - er war bereit zu sterben.

    Sprecher (2) (Zitat Tacitus):

  2. (Seneca) verlangte unerschrocken die Schreibtafeln seines Testaments; und als der Zenturio ablehnte, wandte er sich an die Freunde und bekundete als letzten Willen: Da er gehindert werde, sich für ihre Verdienste dankbar zu erweisen, hinterlasse er ihnen das einzige und dennoch Schönste, was er besitze, nämlich das Bild seines Lebens.

    Sprecherin (1)

  3. So beginnt Tacitus in den "Annalen" die Schilderung vom Sterben des römischen Philosophen Lucius Annaeus Seneca. Die Stunde des Todes war also gekommen, Zeit, den Freunden zu vermachen, was er als das Wertvollste ansah.

    Sprecher (2)

  4. Das Bild seines Lebens. Ein seltsames Wort, das Seneca da sprach. Geht es doch nicht auf in biographischer Bedeutung. In Aufzeichnungen von der Art: unter Kaiser Augustus möglicherweise im Jahre 4 vor unserer Zeitrechnung geboren, aufgewachsen unter Kaiser Tiberius, erste Erfolge unter Kaiser Gaius, Verbannung unter Kaiser Claudius, Tod unter Kaiser Nero im Jahre 65. Oder der Art: kam als zweiter Sohn eines wohlhabenden und angesehenen höheren Beamten im heutigen Cordoba zur Welt, wuchs auf in Rom, wurde auf den Beruf eines Anwalts vorbereitet, neben seinem Studium der Rhetorik frühe Beschäftigung mit der Philosophie. Oder auch so: frühe Erfolge als junger Anwalt und Redner, wegen eines schweren Asthmaleidens jahrelanger Aufenthalt in Ägypten, Rückkehr nach Rom, Heirat mit Pompeia Paulina, abermals große Erfolge als Gerichtsredner, 8 Jahre Verbannung auf Korsika aufgrund politischer Intrigen am Hofe, erneute Rückkehr nach Rom, Erzieher Neros, nach dessen Thronbesteigung Staatskanzler des römischen Imperiums, Rückzug aus der Politik, Selbsttötung auf Befehl Neros.

    Sprecherin (1)

  5. Doch nicht solches hatte Seneca im Sinn, als er vom Bild seines Lebens sprach. Schon eher dies, daß es als ein Vorbild betrachtet werde von denen, die zurückbleiben oder später kommen. War er doch überzeugt davon, vorbildlich gelebt zu haben und ein Lebensbild zu hinterlassen, an dem man sich ein Beispiel nehmen kann. So wie auch er nach Vorbildern gelebt hatte. Gregor Maurach, Altphilologe und Professor für Klassische Philologie in Osnabrück.

    O-Ton Gregor Maurach

  6. Auf der einen Seite hat es einen Sokrates gegeben. D.h. einen Menschen, der aus den Grundsätzen, die er als für den Menschen gültig und verbindlich erachtet hat, sein Leben geführt hat in äußerster Konsequenz ganz der Erziehung der jungen Menschen zum Nachdenken dienend. Und als es dann soweit war, für diese Überzeugung auch bereit war zu sterben. Dann ging die Philosophie nach Rom, nach mancherlei seltsamen Anfängen nahm man sie dann ernst und versuchte sie naturgemäß mit dem zu vereinen, was schon immer für den römischen, rechten Mann gegolten hat, und das war das Tun nicht das Wissen von irgendetwas, von Theoretischem schon überhaupt nicht. Aber sich bewähren als ein Mehrer des Staates. Diese beide Dinge kamen nun zusammen, als die Römer dann begannen, dies zu verbinden mit den griechischen Theorien. Da kam dann die eigentümlich römische Version von Philosophie zutage, die darin bestand, daß der nachdenkende Römer eben als Römer handeln wollte, weiter handeln für seinen Staat, aber nun aus philosophischen Grundsätzen heraus und unter dem großen Eindruck und Einfluß des Sokrates die Forderung an sich stellte, für die Grundsätze, die sie für Recht erkannt hat, im Notfall einzustehen bis zur Aufopferung seines Lebens. Dieses Sich-Bewähren-müssen vor den großen Vorbildern das gab der senecanischen Art zu philosophieren die Basis.

    Sprecherin (1)

  7. Vorbilder, in deren Reihe Seneca nun das Bild des eigenen Lebens einfügte. Beileibe kein l'art pour l'art geben ihre Lebensbilder doch Exempel und Zeugnis eines Lebens, das der Arbeit an einem wahrhaftigen Bild seiner Selbst gewidmet war, eines Lebens, welches ohne Masken, ohne Verkleidungen, ohne Täuschungen auskam. Ein Werk entschlossener Abstraktion, bei dem alles nur Scheinhafte abgezogen wurde, abstrahiert von rein äußerlichem Beiwerk.

    Sprecher (2)

  8. Ein philosophischer Gestus par excellence. Die Reduktion auf das Wesentliche, die Zurückführung des vielgestaltig Menschlichen auf die Grund- und Wesensbestimmungen menschlichen Seins, die Rückführung des Menschen zu sich selbst. Mit anderen Worten Besinnung auf jenes Wort, das am Eingang des Apollontempels in Delphi geschrieben stand, das "gnóthi seautón", "Erkenne dich selbst" - Ethos wie Leitspruch des Philosophen und Weisen seit je.

    Sprecherin (1)

  9. Eine Aufforderung, zurückzutreten und sich in Augenschein zu nehmen. Aus einem Abstand zu sich, Aufschluß über sich zu gewinnen. Für Seneca hieß dies anders als für das sokratische Philosophieren keine Kritik des Wissens und Enthüllung des eigenen Nichtwissens auf dem Wege zur Wahrheit, sondern Kritik des Tuns, des praktischen Vollzugs des Lebens selbst auf dem Wege zu einem wahrhaftigen Leben. Denn das Leben soll nicht einfach nur gelebt, sondern durch Lebenskunst geführt und gestaltet werden.

    Sprecher (2)

  10. "So wie Holz das Material des Zimmermanns ist, Bronze das des Bildhauers, so ist das Material der Kunst des Lebens das Leben jedes einzelnen." Schreibt der Stoiker Epiktet eine Generation später als Seneca. Wilhelm Schmid, Philosoph und Dozent für Philosophie in Erfurt und an der Universität Riga.

    O-Ton Wilhelm Schmid

  11. Der der ars vitae hat, macht etwas ähnliches wie der Künstler, nämlich von Zeit zu Zeit entfernt er sich von seinem Werk, um dieses Werk von außen zu betrachten und dann zu sagen, hier muß ich noch etwas korrigieren, hier noch etwas ergänzen, um dann zurückzugehen zu diesem Werk. Dieses Werk, um das es in der ars vitae geht, ist natürlich das eigene Leben. Von Zeit zu Zeit ermöglicht die Philosophie ein bißchen Abstand zu gewinnen zum eigenen Leben und von außen, wie von außen, daraufzugucken und dann zu sehen, wo da noch etwas modifiziert werden muß. Wo ich vielleicht auf den falschen Weg geraten bin, wo mir was unterlaufen ist, was mir eigentlich nicht passieren sollte, wie ich besser mit diesem und jenem fertig werde.

    Sprecherin (1)

  12. Sein Leben bewußt in Angriff nehmen, es bewerkstelligen als ein Werk, an dem man sein Leben lang arbeitet und das erst im Augenblick des Todes seinen Abschluß findet. Seneca meinte wohl auch dies, als er vom Bild seines Lebens sprach, als das einzige und dennoch Schönste, was er besitze.



      Anmerkungen 1


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