Ein Leben lang leben lernen
2000 Jahre Seneca und
die Philosophie der Stoa
2. Die Sorge um sich
Astrid Nettling
artefact text and translation
Cologne, Germany
Version 1.0 Mai 1996
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Inhaltsverzeichnis
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2. Die Sorge um sich
Sprecher (2) (Zitat Seneca)
- Leben muß man das ganze Leben lernen ... So viele hochbedeutende Männer haben alle Behinderungen hinter sich gelassen und, nachdem sie Reichtum, Verpflichtungen und Genüssen aufgekündigt hatten, sich mit dem einen bis ans Ende ihres Lebens beschäftigt, daß sie zu leben wissen; der größte Teil von ihnen ist mit dem Geständnis, sie wüßten es noch nicht, aus dem Leben geschieden.
Sprecherin (1)
- Heißt es in "De brevitate vitae", "Über die Kürze des Lebens" - ein Satz, der die sokratische Einsicht in die Beschränktheit des Wissens, sein "ich weiß, daß ich nichts weiß", auf das Leben und Zu-leben-wissen anwendet. Im Leben wie im Denken ist nie zu einem Ende zu kommen - nur der Tod wird dem lebenslangen Lernenmüssen einen Schlußpunkt setzen. Eine Einsicht in die menschliche Verfaßtheit, dergemäß der Mensch sein Leben lang Sorge zu tragen habe für sich selbst. Denn die menschliche Existenz ist ihrem Wesen nach Sorge, Sorge um und für sich. In einem Brief an Lucilius, seinen Freund, den Procurator in Syrien, schreibt Seneca.
Sprecher (2) (Zitat Seneca)
- Unter den vier existierenden Naturen (Baum, Tier, Mensch, Gott) unterscheiden sich die beiden letzten, die allein mit Vernunft begabt sind, dadurch, daß Gott unsterblich, der Mensch sterblich ist. Bei ihnen nun vollendet das Gute des Einen, nämlich Gottes, seine Natur, bei dem anderen, dem Menschen, vollendet die Sorge seine Natur.
Sprecherin (1)
- Eine Fabel aus dem 2. Jahrhundert von Hyginus einem römischen Schriftsteller verfaßt, mutet wie eine Art nachgelieferter Gründungsmythos ebendieser Sorgenatur menschlicher Existenz an.
Sprecher (2) (Zitat Hyginus)
- Als einst die "Sorge" über einen Fluß ging, sah sie tonhaltiges Erdreich: sinnend nahm sie davon ein Stück und begann es zu formen. Während sie bei sich darüber nachdenkt, was sie geschaffen, tritt Jupiter hinzu. Ihn bittet die "Sorge", daß er dem geformten Stück Ton Geist verleihe. Das gewährt ihr Jupiter gern. Als sie aber ihrem Gebilde nun ihren Namen beilegen wollte, verbot das Jupiter und verlangte, daß ihm sein Name gegeben werden müsse. Während über den Namen die "Sorge" und Jupiter stritten, erhob sich auch die Erde und begehrte, daß dem Gebilde ihr Name beigelegt werde, da sie ja doch ihm eine Stück ihres Leibes dargeboten habe. Die Streitenden nahmen Saturn zum Richter. Und ihnen erteilte Saturn folgende anscheinend gerechte Entscheidung: "Du Jupiter, weil du den Geist gegeben hast, sollst bei seinem Tode den Geist, du Erde, weil du den Körper geschenkt hast, sollst den Körper empfangen. Weil aber die "Sorge" dieses Wesen zuerst gebildet, so möge, solange es lebt, die "Sorge" es besitzen.
Sprecherin (1)
- Der Mensch ist also ein Kind der Sorge. Es würde jedoch ein mißglücktes Portrait, wollte man unter ihrer Strichführung ein Bild des Menschen zeichnen, das ihn gebeugten Rückens, erdrückt von der Last des Lebens und von Kummer gefurchten Gesichts darstellte. So wie ein Stich aus dem 18. Jahrhundert einen Putto zeigt, der als "L'amour de la vérité" einer Büste die Maske abnimmt und ein grämliches Gesicht mit der Unterschrift "Seneca" enthüllt. Doch es bezeichnet die Sorge keineswegs das Gegenteil von Lebensfreude. Cura, so das lateinische Wort für Sorge meint vielmehr das Sich-etwas-angelegen-sein-lassen, die Sorgfalt und Aufmerksamkeit für etwas. Die Sorge entläßt also den Menschen in sein Leben, das er sich angelegen sein läßt, das ihn als das je eigene angeht und das er mit Achtsamkeit zu besorgen hat. Und nichts spricht dagegen, daß dabei der Putto ein Gesicht enthüllt, das von Freude erfüllt ist. Seneca an Lucilius.
Sprecher (2) (Zitat Seneca)
- Das tu vor allem, mein Lucilius: lerne dich freuen. Du meinst, jetzt entzöge ich dir viele Freuden, der ich Zufälliges entferne, der ich Hoffnungen, süßesten Zeitvertreib, für zu meiden halte? Nein, im Gegenteil will ich nicht, das jemals dir fehle Freude. Ich will, daß sie dir zu Hause erwachse: sie wird es, wenn sie nur in dir selbst ist. ... Tu, ich bitte dich, Lucilius, teuerster, was einzig fähig ist, glücklich zu machen: zerschlage und tritt das nieder, was an der Oberfläche glänzt ... auf das wahre Gut schau und freue dich an dem Deinen. Was aber ist das - "an dem Deinen"? An dir selber und dem besten Teil deiner selbst.
Anmerkungen 2
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