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Man hat Antigone immer hochgeschätzt - in der Polis. Es wird berichtet,
daß die Athener bei der Uraufführung des Stückes (442/41
v.Chr.) so begeistert gewesen waren, daß sie Sophokles die Regierung
von Samos antrugen. Dann später die bemerkenswerte Folge der Antigone-Rezeption,
die ihre Spuren in der Dichtung der Klassik, der Romantik, der Moderne
hinterließ wie in der Philosophie - der Philosophie Hegels, Kierkegaards,
Heideggers mit Hölderlin als dem hellsichtigen Mittler zwischen den
Genres. Folge einer Wiederaufnahme als Versuch einer Übertragung,
einer Übersetzung von Antigone in das Genre der Philosophie.[1]
Ja, die Philosophen haben Antigone immer hochgeschätzt.
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Doch, was macht ihre eigentümliche Hochschätzung aus, was bedeutet
den Philosophen ihr Drama? Wie übersetzt das philosophische Denken
ihr Tun in seinen Bereich, auf welche Weise geschieht der Transfer von
Antigone und ihrer (weiblichen) Operation in das Metaphysische?
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Die philosophische Tradition rühmt diese Treue der Antigone - ihre
Anhänglichkeit an den Toten, ihre Standhaftigkeit gegenüber Kreon,
ihre unwandelbare Gebundenheit an eine ursprüngliche Statt, die Stätte
des Heimatbodens, der Erde, chthonós, in die Polyneikes keine
Bestattung finden soll. Und darüber hinaus - Antigones Beständigkeit
und Unwandelbarkeit der religio an ein ursprüngliches Wort
geschuldet, Treue der Antigone der ungeschriebenen Satzung (ágrapta
nómima) gegenüber, diesem Unvordenklichen, dessen Geheiß
sie Folge leistet.
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Was besagt diese Treue, die Antigone bewahrt? Ihre Weise der sich bindenden,
sich rückbindenden Treue, die sich als die Tat des Bestattens manifestiert.
Der Beseitigung des offenbaren, toten Körpers des Bruders durch seine
Bestattung, die ihm eine Statt gibt, durch die der Nicht-Mehr-Seiende,
der in den Tod Entschwundene geborgen wird und damit auch das Entschwinden
als solches festgehalten, festgehalten in der Stätte des Grabs. Bergung
dessen, was nicht (mehr) ist, der offenen Stätte des Seienden entzogen,
und zugleich die Weise, dem Entschwinden selbst eine Statt zu gewähren.
Für Hegel in der Phänomenologie des Geistes gründet
der offenbare Geist - die offenbare Stätte des Gemeinwesens, der Polis
- in dieser Bergung, in diesem Verschwindenmachen des Toten. Es hat das
Offenbare seine Wurzeln in diesem bewußtlosen und stummen Vergessen,
in den "Wässern der Vergessenheit". Eine Vergessenheit, die es braucht
für das Offenbare, in der das Abgelebte aufgehoben ist, aufgehoben
jedoch in der von Hegel genutzten Bedeutung von aufbewahren und beenden.
Der Frau als Vollstreckerin des "göttlichen Gesetzes" obliegt dieses
sittliche Tun des Bestattens, die Obhut dieser Bergung.
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Sorge also der Antigone für den Toten, Sorge um eine Rückbindung
aus dem Leben hinüber in den Bereich des Todes. Denn im Tode kehrt
der Bruder aus dem öffentlichen Raum der Polis zurück in die
elementare Stätte der Erde, eine Rückkehr, eine Heimkehr auch
in den verborgenen Bereich des Weiblichen, in die Geborgenheit des Schoßes
der Erde. "... wenn ich den Sohn meiner/ Mutter tot, ohne Grab den Toten
ertragen müßte, darüber würde ich Schmerz empfinden
...". (465-468) Kommt dem Bruder die Seite des Offenbaren zu bis hin zum
Skandalon der Offenbarkeit seines Fleisches im Tode - ein Zuviel an Apokalypse,
die radikal das, was zu enthüllen ist, über alles Enthüllen
hinaus bloßlegt, verwesendes Fleisch, das Amorphe, das Außerhalb
jedes Sinns schlechthin -, so erfüllt die Schwester die Seite der
Epikalypse, als Schwester gleichsam komplementär zum Bruder sich zu
situieren, indem sie für die Bedeckung, Verhüllung dessen sorgt.[2]
Verhüllung der brutalen Offenbarkeit eines von jeder Bedeutung entblößten
Fleisches mittels seiner (Ver)bergung durch das Mal seiner Abwesenheit,
das anstelle des toten Körpers dableibt - Anwesenheit des Abwesenden.
Insofern gilt die Treue der Antigone dem Toten, doch sie bewirkt zugleich
die Errichtung einer Stätte des Gedächtnisses, in der das Entschwinden,
die Abwesenheit in einen Prozeß des Erinnerns aufgehoben, und das
heißt auch, geborgen werden kann. Also Sorge für eine Bindung
über den Tod zurück an das Leben, Treue der Antigone gegenüber
den Lebenden über den besonderen Toten hinaus.
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Damit setzt das Werk Antigones den Prozeß einer Verzögerung
in Gang, wenn sie jene radikale mithin immer zu frühe, finale Enthüllung
der "letzten Dinge" dadurch aussetzt, daß sie verhüllt und eine
Spanne des Aufschubs eröffnet. Denn das Verhüllen ist diesem
Aufschieben der Endgültigkeit des Todes geschuldet, einem Aufschieben,
in dessen verzögernder Spanne das Leben selbst geborgen wird - Verhüllung
also damit Enthüllung, Offenbarkeit und damit auch Sinn weiter und
wieder statthat. Kommt dies der Weisung der ágrapta nómima
nach, 'enthüllt' sich darin ihr verborgener Sinn? Dann stände
ihre Weisung statt der finalen Enthüllung, anstelle ihrer Endgültigkeit
- anstelle des Todes - für den Ort einer Entzogenheit, einer absoluten
Transzendenz, von dessen entzogener Position die Wirkung einer Offenheit
ausgeht - ein epékeina tes ousías -, in deren offenen
Spanne Offenbarkeit sich je und je ereignet. Antigone würde damit
entgegen der Hegelschen Deutung der Sorge als einer wesentlich konservierenden
Aufgabe Sorge für jene Öffnung selbst tragen. Sorge für
jenen Zeit-Spielraum des Aufschubs, für das Mehr über
den Rahmen der Polis hinaus - ein Mehr, an dem Kreon als Herrscher
tragisch scheitert in seiner einseitigen Bindung an die Polis.
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Wohingegen Antigone anders scheitert. Ihr Scheitern bringt etwas
ins Spiel, das dieses Mehr über die Offenbarkeit der Polis hinaus
in die Dimension des Geschlechtlichen hineindreht. Ist diese Spanne des
Aufschubs des Todes, in dessen Zeit-Spielraum Leben geborgen ist - Leben
als "Aufgehen" (physis), als "Angehen", d.h. in Anspruch genommen
sein, involviert sein - überhaupt zu denken, ohne die Spur des Geschlechtlichen
zu verfolgen? Nicht in der Weise einer biologischen oder gesellschaftlichen
Übersetzung seines Sinns, der Reproduktion der Gattung und der Rolle
der Geschlechter im Gemeinwesen - Antigone wird diese Rolle des Weiblichen
als Ehefrau und Mutter nicht übernehmen -, sondern ursprünglich.
Ursprünglich in der Bedeutung, daß das "Angehen" des Lebens,
das "Angehen" des Seins des Menschen in diesem Prozeß des Aufschiebens
des Todes als geschlechtliches "aufgeht", das Leben sexuiert ist
- Eros und Thanatos. Ein "Aufgehen" als Folge des ursprünglichen
Einschlags der sexuellen Differenz, eine Folge, die als geschlechtliche
"angeht".
Man hätte, entgegen der Etymologie, in diesem Exzeß drei
lateinische Verben zusammenzuhören: ex-cedere, übertreffen,
herausgehen, ex-cidere (von cadere), herausfallen aus, einer
Sache enteignet werden, und ex-cidere (von caedere), durch
einen Einschnitt abtrennen, beschneiden. Die Seele ist exzediert: sie wird
von diesem durch ein etwas beschnitten, enteignet und übermannt. Konstitutive
Schwäche der Seele, Kindheit, "Armseligkeit".[3]
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Ein unvordenklicher Einschlag, Einschnitt, Aufriß der sexuellen Differenz,
durch die das Leben als sexuiertes "aufgeht", es nach diesem Schlag 'geschlechtet'
ist.[4]
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Wie hat dieser Exzeß in Antigone, im dramein Antigones seine
Resonanz? Auf welche Weise findet der enteignende Einschlag der sexuellen
Differenz in Antigone seinen Widerhall, welche Erschütterung löst
er aus? Ist es über die Wirkung der Entzogenheit der ágrapta
nómima, deren offene Spanne Antigone mit ihrem Begehren stützt?
Findet der Exzeß der sexuellen Differenz als das Begehren und in
dem Begehren des Anderen - Treue der Antigone dem ursprünglichen Wort
gegenüber - sein Echo, seinen Nachhall, seinen Nachtrag? Wäre
der Zeit-Spielraum für die Offenbarkeit des Seienden durch eine Spanne
des Nachtrags verbürgt, die der Einschlag der sexuellen Differenz
eröffnet? Eines Nachtrags, der sich als das Begehren des Anderen artikuliert.
Geht das "Angehen" des Lebens, das "Angehen" des Seins des Menschen als
Aufschub des Todes auf, so trägt Antigone diesem Aufschub mit ihrer
philía, ihrem Begehren Rechnung. Die Spanne des Leben bergenden
Aufschubs, für deren Offenheit Antigone sorgt, würde also wesentlich
durch ihr Begehren gehalten. Offengehalten durch das Begehren, das den
Einschlag der sexuellen Differenz nachträgt und das zugleich nachträglich
auseinanderträgt, zerstreut, differiert.
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Das dramein Antigones verläuft so zwischen der philía,
der Bindung der Schwester an den Bruder und der ent-bindenden Bindung an
die ágrapta nómima, auf die Antigone mit ihrem Begehren
(des Anderen) antwortet. Spannung zwischen der einfachen Bindung an eine
arché - Blut, Verwandtschaft - und der diffizilen Bindung
an ein Ursprüngliches, für dessen "Bergung" das Begehren Antigones
(ein)steht.
Nun, Polyneikes, deinen/ Leib habe ich besorgt und hab mir solches
eingehandelt./ Und ich habe dir Ehre erwiesen, in den Augen der Einsichtigen./
Niemals, wenn ich Mutter von Kindern geworden wäre,/ noch wenn ein
Gatte mir sterbend dahinschmolz,/ hätte ich gegen die Bürger
dieses Mühsal unternommen./ Welchen Gesetzen (nómou)
zuliebe sage ich dies?/ Einen anderen Gatten bekäme ich, wenn er sterben,/
und ein Kind von einem andern Mann, wenn ich es verlieren würde./
Nachdem aber Mutter und Vater im Hades geborgen sind,/ gibt es keinen Bruder,
der da nachwachsen könnte./ Nach diesem Gesetz (nómoi)
habe ich dir Ehre erwiesen/ und in Kreons Augen dieses falsch gemacht/
und Ungeheueres (deiná) gewagt, o brüderliches Haupt.(902-915)
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Bruder-Schwester vereint das Band eines Ursprungs. Es ist eine Bindung
ohne Geschichte, sie verharrt in einer Art Stillstand, Gleichgewicht und
Ruhe. Weder bestimmt durch die vertikale Bindung von Eltern-Kind und ihres
Generationenkonflikts, noch durch die horizontale Bindung von Mann und
Frau und ihrer Begehrensspannung nimmt sie ihre Bedeutung aus dieser suspendierten
Spannung der Generationen- und Geschlechterdifferenz. Die Geschwisterbindung
verbindet ein Geteiltsein in (mindestens) zwei über den gleichen Ursprung
- sie sind ein Geschlecht -, und findet seine vollkommenste Ausprägung
in der Beziehung von Bruder-Schwester, sie sind zwei Geschlechter und dennoch
ein Geschlecht.
Das unvermischte Verhältnis aber findet zwischen Bruder
und Schwester statt. Sie sind dasselbe Blut, das aber in ihnen in
seine Ruhe und Gleichgewicht gekommen ist. Sie begehren daher
einander nicht, noch haben sie dies Fürsichsein eines dem anderen
gegeben noch empfangen, sondern sie sind freie Individualität gegeneinander.
Das Weibliche hat daher als Schwester die höchste Ahnung des
sittlichen Wesens,[5]
schreibt Hegel in der Phänomenologie des Geistes über
Bruder und Schwester.
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So scheint Antigone, Schwester des Polyneikes, einfach dieser philía,
der fraglosen Bindung an den toten Bruder, zu folgen - "Lieb (phíle)
werde ich bei ihm liegen, mit dem Lieben (phílou) zusammen."
(73) Doch wird dieses Einfache, der Sinn ihrer Bindung, so wie sie ihn
als philía zum Bruder auslegt, auseinandergetragen, differiert.
Die einfache Bindung der philía wird durch die Wirkung des
Unvordenklichen, in dessen Resonanz sie sich stellt, entbunden. Der Entzug
des Sinns, den Antigone durch ágrapta nómima erfährt,
zerreißt das Band dieser philía zugunsten der aufschiebenden
und nachtragenden Spanne des Begehrens des Anderen, die Antigone mit dem
epékeina tes ousías der ungeschriebenen Gesetze verbindet.
Treue der Antigone, welche den Schritt einer (Rück)bindung wagt, einer
diffizilen (Rück)bindung über das Offenbare hinaus an ein Ursprüngliches,
das jedoch jeden Ursprung - einen Ursprung des Bluts, wie ihn Antigone
zunächst reklamiert - durchstreicht. In ihrem Begehren bindet sie
sich an dieses Außen, dessen Entzogenheit sie mit ihrem Begehren
bestätigt und wahrt. Erhaltung einer transzendenten Position, Wahrung
seiner weisenden Macht durch alle Entzogenheit hindurch. Der Denkbarkeit
entzogen, sind die ágrapta nómima für sie verbindlich
als Gesetz, das heißt, sie geben die raison ihres Tuns, eröffnen
aber keinen Sinn, keinen lógos dessen, sondern weisen auf
ein epékeina tes ousías, das Antigone in die Spanne
einer sinnlosen Transzendenz stellt. Das Andere der ágrapta nómima
ist ohne lógos, dessen radikaler Exzeß Antigone in
ihrem dramein als das eigene Scheitern erfährt.
Weil ich - welches Recht der Götter - nicht achtete?/ Was soll
ich Unglückselige zu den Göttern noch aufblicken?/ Welchen Beistand
benennen? Denn - das ist jetzt klar -/ Gottlosigkeit habe ich durch frommes
Tun erworben. (921-924)
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Erscheint also die Spur des Geschlechtlichen, wenn von der Spanne des Aufschubs
des Todes die Rede ist? Von dieser Leben bergenden Spanne, die vor allem
Sinn Offenheit als solche bedeutet? Ist es eine Frage, die innerhalb einer
Subversion der metaphysischen Auslegung des Wesens des Menschen
sich stellt - subvertere umstürzen, vertere drehen,
wenden, kehren -, eines Drehversuchs aus der traditionellen Bestimmung
des Menschen als zoion lógon échon, als animal
rationale hin zu seiner Konfrontation mit dem, was sich dem Zugriff
des lógos entzieht? Hin zu der Konfrontation mit einem Einbruch,
einem Exzeß inmitten seiner selbst, mit dem (Ein)schnitt der sexuellen
Differenz, deren Spur als Begehren sich im Subjekt nachträgt.
Freud nennt dieses Etwas Geschlechtsunterschied. Man kann, man muß
(man kann nicht anders als) ihm tausend Namen geben: das "Sexuelle", Kastration
der Mutter, Inzestverbot, Vatermord, Name des Vaters, Schuld, Gesetz, medusenhafte
Erstarrung, Verführung, und von allen Namen vielleicht der Schönste:
Exogamie, wenn man darunter, den Sinn des Wortes ein wenig verschiebend,
eine nicht zu parierende, "unpaarige" Paarung versteht, zwischen Mann und
Frau, und zuvor zwischen Kind und Erwachsenem. Welchen Schauplatz in der
Nacht der Zeiten man auch immer anführen mag, ob das Individuum oder
die Gattung betreffend, dieser Platz, der nirgendwo ist und auf dem nichts
zu schauen ist, der nicht einmal, da undarstellbar, gewesen ist,
der vielmehr ist und ex- ist und bleiben wird, wie immer
man ihn darstellen und mit welchen Requisiten man ihn auch versehen mag,
dieses Ereignis ek-sistiert im Innern, als eine In-sistenz, als das, was
alle Vorstellungs-, Begriffs- und Vernunftsynthesen übersteigt.[6]
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Die sexuelle Differenz eigentlich ohne Schauplatz und ohne Namen, aber
immer schon in eine Szenerie übersetzt, zum Beispiel - in die Szenerie
Antigone.
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