Epikálypsis - Antigone * Schwester  
Astrid Nettling  

Back to artefact homepage

artefact text and translation


Version 1.0: January 1993 
**
 
  1. Eine nicht einfache Wiederholung des neutralisierenden Gestus der Metaphysik wird sich also in dem zeigen, wie Heidegger Antigone in seinem Versuch, die Metaphysik auf ein 'Anfängliches' zurückzudrehen, überträgt. Heidegger kommt zweimal auf die Antigone von Sophokles zu sprechen: in seiner Vorlesung Einführung in die Metaphysik von 1935 und in der Freiburger Hölderlinvorlesung von 1942. Es geht ihm in beiden um die Erhellung des 'ursprünglichen Wesenszusammenhangs des dichterischen und denkerischen Sagens', wie er ihn bei den frühen griechischen Denkern verwirklicht fand, und dabei um eine Drehung aus dem später einseitig gedachten Bezug von Denken und Sein in eine dichtend-denkende Grunderfahrung des Seins. "Das wesenhaft Zu-Dichtende ist das, was sich im Seienden als Seiendem niemals finden läßt, was vielmehr, vom findbaren Seienden aus gesehen, nur er-funden werden kann. Aber dieses dichtende Er-finden ist nicht das Er-finden eines Seienden, sondern es ist ein reinstes Finden eines reinsten Suchens, das sich nicht an das Seiende hält. Das Dichten ist ein sagendes Finden des Seins.".[1]  Diese dichtend-denkende Grunderfahrung des Seins bei den frühen griechischen Dichter-Denkern hat sich selbst durch Genrewechsel, mithin Übersetzungen, hindurch geformt - durch die Übersetzung des gesprochenen Wortes in das Genre der Schrift, die Übersetzung des Mythos in das Genre der Tragödie. Heidegger verfolgt jedoch keine Übersetzungsgeschichte des mytho-lógos - weder nach vorne als eine Geschichte der Aufklärung, noch zurück als eine der Aufklärungskritik -, sondern besteht auf dem ursprünglichen, gesammelten, epochalen Moment, an dem die frühen Dichter und Denker in verschiedenen Genres dasselbe sagten -

  2.  
      Denn das Wesen des Seins ist für die Griechen die physis  - das von sich aus aufgehende Leuchten, das durch nichts anderes vermittelt, sondern selbst die Mitte ist. Diese Mitte ist das anfänglich Bleibende und alles Umsichsammelnde -  jenes, worin alles Seiende seine Stätte hat und als das Seiende heimisch ist.[2] 
       
  3. Wie steht es dort - in der Tragödie und ihrem Spannungsfeld, das von Bindungen und Einschnitten getragen ist: der Bindung des Menschen an das Geschlecht, seiner Bindung an die Polis, der Schnittstelle zwischen Leben und Tod, der Schnittstelle zwischen dem Menschen und dem Göttlichen - mit einer Nähe zum Sein, einer jedoch niemals einfachen Nähe? Mit dem (Nach)glanz des Seins in der Sprache der Dichtung, der das Mehr an Sinn über jedes bloß Ausgesagte hinaus verbürgt? Wie artikuliert sich in ihr jene gleichsam häutchenähnliche, jedoch grundlegende Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden, dieses Hin und Her ihres wechselseitigen Offenseins, die feine aber entscheidende Spanne einer Differenz, in die ein offenes Staunen, ein Aufmerken gestellt ist - eben jenes sagende Finden des Seins? Allein, gibt es diese Leichtigkeit innerhalb des schweren Zuschnitts der Tragödie? In der Tragödie Antigone, die von einem schweren Druck zu zeugen scheint, einem Druck, der auf dem Sagen liegt und es über alles Sagbare hinaus treibt, dem Druck numinoser Macht, der Macht eines Wortes über alle Worte hinaus - einem Druck, den Antigone als das Geheiß "ungeschriebener Gesetze" (ágrapta nómima) vernimmt.

  4.  
      Nicht Zeus hat mir dies verkünden lassen/ noch die Mitbewohnerin bei den unteren Göttern, Dike,/ die beide dieses Gesetz unter den Menschen bestimmt haben,/ und ich glaubte auch nicht, daß so stark seien deine/ Erlasse, daß die ungeschriebenen und gültigen/ Gesetze der Götter (ágrapta kasphale theon nómima) ein Sterblicher übertreten könnte./ Denn nun nicht jetzt und gestern, sondern irgendwie immer/ lebt das, und keiner weiß, wann es erschien. (450-457) 
       
  5. Heidegger übersetzt diesen Druck in die Bindung des Menschen an das Sein und Antigone wird für ihn diese Bindung sagen:

  6.  
      Antigone übernimmt als das Schickliche, was ihr zugeschickt ist aus dem, was über den oberen Göttern (Zeus) und den unteren Göttern (díke) west. Das sind auch nicht die Toten, das aber ist auch nicht die Blutsverbundenheit zum Bruder. Was Antigone bestimmt, ist jenes, das erst der Auszeichnung der Toten und dem Vorrang des Blutes den Grund und die Notwendigkeit gibt. Was das ist, läßt Antigone, und d.h. zugleich die Dichtung, ohne Namen. ... Die dem Menschen und nur ihm eigene Zugehörigkeit zum Tod und zum Blut ist selbst erst bestimmt durch den Bezug des Menschen zum Sein selbst. ... Wir müssen, damit wir im Bereich der griechischen Wahrheit der Antigone-Tragödie bleiben, auch noch über Totenkult und Blutsverwandtschaft hinausdenken und das Wort der Antigone so festhalten, wie es gesagt ist. Dann erkennen wir, daß sie, griechisch gedacht, das Sein selbst nennt.[3] 
       
  7. Es geht somit um das Wesen dieser Bindung, dieser einfachen Bindung, die jedoch am schwersten zu denken ist, wie Heidegger immer wieder betont. Eine Einfachheit, die diffizil ist, in dem Maße sie sich nur über einen Abstand zum metaphysischen Denken erschließt, sich wohl erschließt über das, was dieses der Operation der ontologischen Differenz verdankt, aber zugleich sich erschließt gegen das metaphysische Denken, in der Weise, wie es selbst die Radikalität dieser Differenz verkennt. Ihre diffizile Einfachheit wird auf der einen Seite einem schlichten "Angehen" des Seins geschuldet sein, einem nahen "Angehen" des Seins, das gleichzeitig von einer Ferne, einer fundamentalen Entfernung des Seins zeugt. Denn das Sein ist das Transzendente schlechthin. Es ist epékeina tes ousías, was alle Bindung an das Seiende und seine Seiendheit als Idee übersteigt, scheinbar wie auch das metaphysische Denken jede einfache Verbundenheit mit der Welt löst und sich auf ein Transzendentes (aus)richtet. Epékeina tes ousías - mit dieser Formel hat Platon im Staat den transzendenten Ort der "Idee des Guten" charakterisiert, die in ihrem Vermögen, ihrer Kraft und Gewalt (dynamis) über alles Wirkliche (epékeina tes ousías) hinausragt und maßgebend ist für dieses. [4]  "Gewaltige" Wirkweise eines Transzendenten, das Platons Metaphysik als Idee auslegt, als das (ver)bindende Vorbild und die verbindliche Maßgabe für das Seiende im Ganzen. Richtet die Metaphysik Platons so die Spanne von lógos und Sein auf das Maß der Idee aus, ist auf diese Spanne wieder zurückzukommen, jedoch auf sie als einer (maßlosen) Differenz zwischen Sein und Seiendem. Denkt die Metaphysik aus diesem Abstand - Heidegger verweist an anderer Stelle auf den chorismós bei Platon -, so sind sowohl der chorismós als auch epékeina tes ousías[5] - die metaphysischen, Platonischen Figuren für diesen Abstand und die Trennung, aber auch für die Bindung des Seienden an die Idee als Vorbild - auf jenes 'anfängliche' "Angehen" des Seins zu wenden und danach zu fragen, was jene (Ver)Bindung 'ursprünglich' heißt, was es 'anfänglich' bedeutet, in ein "Angehen" des Seins gestellt zu sein, wie es Heidegger rückdrehend formuliert. Angehen in der Bedeutung sowohl eines Angehens des Seins als beginnen, aufkeimen, aufsprießen (physis), eines Angehens von Sein als anbelangen, betreffen, kümmern, Bezug haben, als auch eines Angehens des Seins in der Bedeutung von in Angriff nehmen, in die Wege leiten. 

  8.  
  9. Heidegger wird dieses "Angehen" in seiner Einführung in die Metaphysik mit Hilfe von Antigone, genauer des Chorlieds aus Antigone, gegen die Metaphysik zu wenden versuchen, was selbst im Zuge seiner gegenwendigen Auslegung des Satzes von Parmenides: "tò gàr autò noein estín te kaì einai" steht, den er gegen den Strich der Tradition übersetzt mit: "Zusammengehörig sind Vernehmung wechselweise und Sein."[6]  Entgegen der traditionellen Grundvoraussetzung ihrer Getrenntheit und die Folge ihrer Identifizierung, welche besagt, Denken und Sein seien dasselbe, sucht Heidegger ihre ursprüngliche Einheit als physis und lógos als gegenstrebig zusammengehörig zu fassen. Zum Sein als physis gehört Erscheinen, in die Unverborgenheit treten, zur Unverborgenheit gehört aber auch Vernehmen (noein) des Erscheinens des Seins, Vernehmen, das den Menschen als denjenigen, den das Sein angeht und das er angeht, auszeichnet - der Mensch ist als Vernehmender in das sich eröffnende Seinsgeschehen gestellt, das er dann in die Wege leitet, in Angriff nimmt. 

  10.  
      Sein waltet, aber weil es waltet und sofern es waltet und erscheint, geschieht notwendig mit Erscheinung auch Vernehmung. Soll aber nun am Geschehnis dieser Erscheinung und Vernehmung der Mensch beteiligt sein, dann muß der Mensch allerdings selbst sein, zum Sein gehören.[7] 
       
  11. Um eben diese bei Parmenides ausgesprochene gegenstrebige Einheit von Denken und Sein, aus der eine Bestimmung des Wesens des Menschen aus dem Wesen des Seins erfolgt, geht es in seiner philosophischen Übersetzung des Chorlieds aus Antigone: "Vielgestaltig ist das Ungeheure (deiná), und nichts ist ungeheurer (deinóteron)/ als der Mensch (anthrópou) ..." (332/33), in dem der Mensch als derjenige geschildert wird, der durch seine gewaltige Kunst des Erfindens (mechanóen téchnas) in der Welt seinen sicheren Stand bezieht und einzig am Tod scheitert, der Mensch als jenes gewaltige Wesen, das weit über sich hinausgreifen kann durch das Vermögen seiner téchne, aber dabei in der Gefahr steht, maßlos zu werden, zu hoch hinauszugreifen und tief zu stürzen. Dieses Chorlied also, das selbst allgemein vom Menschen spricht - es verwendet anthrópou, der Mensch, und anér, der Mann/der Mensch -, soll den Menschen angehen, das Wesen des Menschen aussagen. Heidegger stellt seine Übersetzung in die durch das Wort deinón eröffnete Spannweite, die einmal das Gewaltige, Gewaltsame des Menschen in seinem Handeln, seinem Können in bezug auf das Seiende meint und zum anderen das Gewaltige, Überwältigende eines Geschehens, des Seinsgeschehens, das den Menschen aus seinem Vermögen, seinem Können herausreißt und scheitern läßt. Deinón konfrontiert den Menschen mit einem epékeina tes ousías, einem Darüberhinaus, das gleichsam inmitten des Seienden immer schon aufgetan ist, mit einem Riß des Überwältigenden, Gewaltigen (deinón) des Seins in das Seiende, mit einem unvordenklichen Aufspringen des Seins, das der Mensch nicht zu bewältigen vermag. Druck, Not einer Spannung, in die der Mensch gestellt ist, der Spannung mithin zwischen téchne, dem Gewalttätigen (deinón) des Menschen als Könnenden, Vermögenden und díke, dem Überwältigenden (deinón) des Seins.

  12.  
      So stehen das deinón als das Überwältigende (díke) und das deinón als das Gewalt-tätige (téchne) einander gegenüber, allerdings nicht wie zwei vorhandene Dinge. Dieses Gegenüber besteht vielmehr darin, daß die téchne aufbricht gegen die díke, die ihrerseits als Fug über alle téchne verfügt. Das wechselweise Gegenüber ist.[8] 
       
  13. Das epékeina tes ousías ist nicht auf das Maß der Idee ausgerichtet, sondern ist als "Fug" des Seins (physis) in seiner ursprünglichen Gesammeltheit lógos, ist die gesammelte Fügung dessen, was den Menschen angeht. 

  14.  
      Das Überwältigende ist in all seinen Bereichen und Mächten hinsichtlich seiner Mächtigkeit der Fug. Das Sein, die physis, ist als Walten ursprüngliche Gesammeltheit: lógos, ist fügender Fug: díke.[9] 
       
  15. Geht dies den Menschen an, geht es den Mann an, geht es die Antigone an? 

  16.  
    Augenfällig übersetzt Heidegger in seiner Übertragung des Chorlieds Antigone nicht, augenfällig erscheint Frau nicht, wenn es um die Sache des wechselweisen Gegenüberstehens von téchne und díke geht. Offenbar geht deinón als das Überwältigende, wenn es im Zusammenhang mit dem Gewalttätigen von téchne steht, Frau nichts an. Auch das Chorlied selbst nennt Antigone nicht. Spricht es mehr von Kreon und seinem tragischen Scheitern, oder spricht es auch von Antigone und ihrem Drama? Läuft beider Handeln auf dasselbe hinaus, auf ein Geschick, das den Menschen betrifft, oder verläuft das dramein Antigone anders, zeigt es einen anderen Zug des Menschlichen? Wie vernimmt Antigone das Walten der ursprünglichen Gesammeltheit des Seins, das Geheiß der ágrapta nómima? Geht es Antigone auf die gleiche Weise an wie den Menschen, oder kommt hier die Antigone ins Spiel in einem weiblichen dramein, das anders sich abspielt als das des Menschen, des Männlichen? Was geht sie an, wenn sie sich um den Anspruch "ungeschriebener Gesetze" kümmert? Denn es ist zunächst die Sache Antigones, wenn sie sich ihres Rechts annimmt: 
     
      Nicht Zeus hat mir dies verkünden lassen/ noch die Mitbewohnerin bei den unteren Göttern, Dike,/ die beide dieses Gesetz unter den Menschen bestimmt haben,/ und ich glaubte auch nicht, daß so stark seien deine/ Erlasse, daß die ungeschriebenen und gültigen/Gesetze der Götter (ágrapta kasphale theon nómima) ein Sterblicher übertreten könnte./ Denn nun nicht jetzt und gestern, sondern irgendwie immer/ lebt das, und keiner weiß, wann es erschien. (450-457) 
       
  17. Es geht immer noch um das Wesen der diffizilen Seinsverbundenheit der metaphysischen Seinsvergessenheit entgegen, um eine (An)denkbarkeit des Seins, welche zugleich seine Undenklichkeit (das Überwältigende als solches) gegen den verschließenden Zug der Metaphysik, das Sein als etwas zu denken, betont, es geht um ein Angehen des Seins als genitivus objectivus und subjectivus, um ein Angehen des Seins, "... weil das Überwältigende als ein solches, um waltend zu erscheinen, die Stätte der Offenheit für es braucht."[10]  Heideggers Blick dreht sich hier auf die Stätte der Offenheit selbst, wobei entgegen der Metaphysik und ihres auf die Anwesenheit des Seienden ausgerichteten Blicks, die Offenheit als solche thematisiert wird. Es braucht die Offenheit, damit etwas als etwas bestehen kann, es braucht dafür das Öffnen eines Überwältigenden (deinón), ein Aufklaffen, einen Exzeß - epékeina tes ousías. Aber auch, damit dies geschieht, damit die immer wieder erneute Eröffnung der Stätte der Offenheit überhaupt statthat, braucht es die Bewegung des Räumens als eines Freimachens, eines Rückzugs, eines Entfernens. In einer später eingefügten Parenthese kommt Heidegger ziemlich am Anfang der Einführung in die Metaphysik auf die Funktion von chóra zu sprechen, das bei Platon im Timaios verwendete Wort für Raum, auf die Funktion von chóra als einer raumgebenden Operation. "Könnte chóra nicht bedeuten: das Sichabsondernde von jedem Besonderen, das Ausweichende, das auf solche Weise gerade anderes zuläßt und ihm 'Platz macht'?"[11]  Heidegger schließt an dieser Stelle die Parenthese über die Räumung, über chóra bei Platon, dessen Ausführungen dazu durchaus als eine frühe Spur zu entziffern sind, die Stätte der Offenheit als solche in der Metaphysik zu denken. Platon bezeichnet sie als eine unzugängliche und schwierig zu denkende "Gattung", die dem philosophischen Gedanken und seine Ausrichtung auf das Erscheinende, nicht zu integrieren sei, deren Operation des Räumens-für-ein-anderes es aber bedarf, damit das Erscheinende überhaupt eine Statt hat.[12]  Die Stätte der Offenheit also braucht die Operation eines Sichabsonderns, eines Ausweichens, es bedarf eines Zugs der Entfernung. Steht das Handeln Antigones im Zusammenhang mit dieser Operation, steht ihre Tat des Bestattens des Toten für eine Räumung der Stätte des Offenen, damit die Stätte der Offenheit statthat? Was bedeutet die Tat des Bestattens, das Wegschaffen des Toten für die Stätte der Polis? Wie ist das Handeln Antigones als Schwester, das dem Recht des Blutes, der verwandtschaftlichen Bindungen folgt und sich der menschlichen/männlichen Bindung an die Polis entgegensetzt, philosophisch zu übersetzen? Was bedeutet die Funktion von chóra, die Operation des Räumens-für-ein-anderes, damit etwas Platz hat, für die Metaphysik und ihre Ausrichtung auf die Anwesenheit, wenn man versucht, diese zu drehen der Anwesenheit entgegen auf ein Entfernen zu? Heidegger wird diesen Gedanken nicht aufnehmen in bezug auf Antigone, er wird nicht differenzieren zwischen einer männlichen und einer weiblichen Operation, wenn er Antigone allgemein in die Bindung des Menschen an das Sein überträgt. 

  18.  
      Was Antigone bestimmt, ist jenes, das erst der Auszeichnung der Toten und dem Vorrang des Blutes den Grund und die Notwendigkeit gibt. Was das ist, läßt Antigone, und d.h. zugleich die Dichtung ohne Namen. ... Die dem Menschen und nur ihm eigene Zugehörigkeit zum Tod und zum Blut ist selbst erst bestimmt durch den Bezug des Menschen zum Sein selbst.[13] 
       
  19. Heidegger neutralisiert das, was Antigone bestimmt, was sie angeht - das Geheiß der ágrapta nómima - von einer Bindung an das Blut, an die Toten her. Er neutralisiert das dramein Antigones, d.h. ihr Handeln als Schwester gegenüber dem Bruder, ihre Tat des Bestattens des Toten. Wie Heidegger überhaupt jene innerhalb der Philosophie präferierte Figur der Schwester unübersetzt läßt, obwohl Schwester die neuzeitliche Philosophie auf eine eigene Weise angezogen hat - man denke an Hegel, Kierkegaard und Hölderlin. Heidegger hebt das Thema des Inzests und seine 'ursprüngliche' Bindung auf. Es ist ein Gestus, der zu wiederholen scheint, der den Gestus der Metaphysik in seiner aufhebenden Konsequenz aufnimmt, wenn er Antigones Bindung an eine arché - die arché des Bluts, der Verwandtschaft - durch die Wendung auf das Sein als den mithin namenlosen Grund und Notwendigkeit dieser ausgezeichneten und vorrangigen Bindungen an-archisiert. Doch über eine einfache Wiederholung hinaus geht es Heidegger um die Wirkung einer Suspendierung jeder möglichen Auslegung des Sinns der ágrapta nómima, der ungeschriebenen Gesetze, eines Aussetzens von Sinn, um auf die Offenheit des Seienden als solche zu drehen. Damit auf die Offenheit, die es braucht und die Antigone durch ihr Handeln (ein)räumt, in einer mithin weiblichen Operation - was Heidegger in dieser Weise nicht eigens bedenkt.

  20.  
  21. Begleitet die Sache Antigones die Heideggersche Drehung aus der Metaphysik der Anwesenheit, ist sie einem Entzug außerhalb des lógos, des lichtenden Worts, verpflichtet, den sie als eben diese weibliche Operation vollzieht? Wenn Heidegger die zentrale metaphysische Bindung von lógos und Sein wiederholt, er jedoch die Metaphysik in ihrer apokalyptischen Struktur zu drehen sucht, wird er auf eine epikalyptische Struktur stoßen - die Struktur des Verbergens, Verhüllens, Verdeckens des Seins -, was in zentraler Nähe zu dem steht, wie er die Geschichte der Metaphysik mit der Vergessenheit des Seins zu konfrontieren sucht. Aber epikálypsis ist auch die Sache der Frau, ist auch die Sache Antigones.[14] 

  22.  
  23. Es stellt sich die Frage, auf welche Weise Antigone mit der diffizilen Seinsverbundenheit zu tun hat, der traditionellen Metaphysik entgegen, einer Seinsverbundenheit mithin, die über ein Entfernen, einen Entzug des Seins verläuft. Steht Antigone, das dramein Antigones in Verbindung damit, die sie durch ihre Geste des Bestattens als ein Entfernen, als ein Verbergen bekundet? Entspricht die Tat des Bestattens dem Sichverbergen des Seins? Geht Antigone in dieser Weise das Sichverbergen des Seins an, dem sie mit ihrer Tat nachkommt? Wenn es für die Stätte der Offenheit der Räumung bedarf, dann kommt das Begraben, das Errichten einer Stätte der Verborgenheit diesem entgegen und entspricht ihm dadurch, daß es dazu verhilft, das Immer-schon-diesseits der Verbergung zu markieren, die Stätte der Offenheit von alétheia zu räumen, in der die Metaphysik ihre Bindung von lógos und Sein übernimmt. Indem Antigone auf diese Weise das Sichverbergen des Seins angeht, gibt sie diesem durch die Stätte des Grabs eine Statt, schafft einen Ort des Entzugs - so dem Vergessen entzogen.[15] 
 

    Fußnoten 

     
    1. Martin Heidegger Hölderlins Hymne "Der Ister" GA Bd. 53, Frankfurt a.M. 1984, 149. zurueck

    2.   
    3. Ebd. 140. zurueck

    4.  
    5. Ebd. 147. zurueck

    6.  
    7. "... so daß das Gute nicht das Sein ist, sondern an Würde und Kraft noch über das Sein hinausragt." Platon Politeia Buch VI, 509. zurueck

    8.  
    9. (Vgl.) Martin Heidegger Was heißt Denken? Tübingen 1984, 174f. zurueck

    10.  
    11. Martin Heidegger Einführung in die Metaphysik Tübingen 1987, 111. zurueck

    12.  
    13. Ebd. 106. zurueck

    14.  
    15. Ebd. 123. zurueck

    16.  
    17. Ebd. zurueck

    18.  
    19. Ebd. 124. zurueck

    20.  
    21. Ebd. 51. zurueck

    22.  
    23. (Vgl.) Platon Timaios 49c-53c; für eine ausführliche Darlegung der Funktion chóra bei Platon siehe: Jacques Derrida, Chora Wien 1990, sowie v. Verf. Sinn für Übergänge, Zur Parergonalität des Weiblichen in der Philosophie, Versuch über die Geschlechterdifferenz Wien 1992. zurueck

    24.  
    25. Heidegger Hölderlins Hymne "Der Ister" 147. zurueck

    26.  
    27. (Vgl.) Rudolf Heinz Oedipus complex, Zur Genealogie von Gedächtnis Wien 1991, 15f. zurueck

    28.  
    29. Zum Zusammenhang von Unverborgenheit und Verborgenheit in bezug auf das männliche Wesen der Metaphysik siehe Michael Eldred Der Mann: Geschlechterontologischer Auslegungsversuch der phallologischen Ständigkeit Frankfurt a.M. 1989. (vgl. jetzt Michael Eldred Phänomenologie der Männlichkeit: kaum ständig noch Röll Verlag, Dettelbach 1999) zurueck
     

      Copyright (c) 1993 by Astrid Nettling, all rights reserved. This text may be used and shared in accordance with the fair-use provisions of U.S. and international copyright law, and it may be archived and redistributed in electronic form, provided that the author is notified and no fee is charged for access. Archiving, redistribution, or republication of this text on other terms, in any medium, requires the consent of the author. 
       Back to artefact homepage
      artefact