http://vg04.met.vgwort.de/na/26c80dfbcbac4ae0a042ce448626bd46

Diverse Writings 27

In PDF

Das Ende der Wissenschaft und der Anfang der Weisheit(1)

Michael Eldred

Back to artefact homepage

artefact text and translation
Cologne,
Germany

Last modified 27-Oct-2016
Version 1.2 October 2016
Version 1.1 July 2016
Version 1.0 February 2016
First put on site 26-Feb-2016
Download Sgreek TrueType font (for PC and Mac)

Inhaltsverzeichnis

Als e-Broschüre

Erhältlich auch auf Englisch

0. Abstract

1. Die Frage nach der Kinaesis in den griechischen Anfängen der Philosophie

2. Die griechische Bestimmung des transzendenten Metaphysischen als des Akinaeton

 3. Das Leben als Selbstbewegtheit 

  4. Das Menschenwesen als eine besondere Selbstbewegtheit

5. Das Widerspenstige der zufälligen Kinaesis

6. Der Anfang der Weisheit durch die Öffnung der Zeit

7. Hermeneutische Chronophasis 

 

0. Abstract

Bereits vom (griechischen) Anfang an hat die Wissenschaft Absolutheitsansprüche angemeldet. Heute gilt es, diese Anmaßungen zurückzudrängen, um Platz für anderes zu schaffen. Der Schlüssel zu dieser gründlichen Umorientierung im Denken ist die Frage nach der Bewegung und die damit zusammenhängende Frage nach der Zeit selbst. Dies geschieht als Schritt zurück von der Wissenschaft zur Weisheit, als Schritt, der mit einer Tieferlegung der Zeitauffassung einhergeht von der einäugig linearen Zeit, die bloß von der Bewegung abgezählt worden ist, zur dreiäugig dreidimensionalen Zeit, welche die Bewegung überhaupt in ihrer Wahrheit erst ermöglicht. So wird die hermeneutische Ontologie zur hermeneutischen Chronophasis, d.h. zum hermeneutischen 'Sagen der Bewegung von der Zeit her'. 

1. Die Frage nach der Kinaesis in den griechischen Anfängen der Philosophie

e)/stin ou)=n dh\ kat' e)mh\n do/can prw=ton diairete/on ta/de: ti/ to\ o)/n a)ei/, ge/nesin de\ ou)k e)/xon, kai\ ti/ to\ gigno/menon me\n a)ei/, o)\n de\ ou)de/pote;

Zuerst nun muß meiner Meinung nach dies unterschieden werden: Was ist das immer Seiende und kein Entstehen Habende, und was das immer Werdende, aber niemals Seiende?
Platon Timaios 27d-28a

Der Titel ist herausfordernd, provozierend, aber nicht polemisch gemeint. Hier geht es darum, endlich nach zweieinhalb Millennia die Wissenschaft ihrem gebührlichen Platz zuzuweisen. Denn sie hat seit langem ihre schicklichen Grenzen überschritten und Absolutheitsansprüche angemeldet — und dies, ohne daß zielgenaue philosophische Einsprüche gegen diese Anmaßung der Wissenschaft erhoben worden wären. 

Die westliche Wissenschaft (e)pisth/mh) ist aus dem griechischen Denken über die Bewegung/Veränderung (ki/nhsij) überhaupt entstanden. Das war der Anfang der Philosophie vom sechsten bis zum vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Die Bewegung, die im Fokus des philosophischen Denkens als exemplarisch und paradigmatisch stand, war die regelmäßige, zyklische Ortsbewegung (fora/, ki/nhsij kata\ to/pon) der Fixsterne am Himmel. Wegen ihrer zuverlässigen Regelmäßigkeit konnte diese Himmelsbewegung vorausgesagt und sogar vorausberechnet werden und wurde sogar zu derjenigen Bewegung, von der her die Zeit selbst gezählt wurde. Denn die regelmäßige Wiederkehr der Fixsterne jedes Jahr, die regelmäßige Wiederkehr des Mondes jeden Monat, die regelmäßige Wiederkehr der Sonne jeden Tag wurden zu natürlichen Zeitmaßen. So wurde die Zeit von regelmäßigen, zyklischen, physischen Bewegungen her gezählt. Die Uhr-Zeit im weitesten Sinne wurde geboren. Platon sagt sogar im Timaios (38b-c), daß die Zeit mit den sich bewegenden Planeten am Himmel entstanden sei. Und Aristoteles unternahm den nächsten Schritt, indem er die Zeit als a)riqmo\j kinh/sewj kata\ to\ pro/teron kai\ u(/steron, "die Zahl der Bewegung im Hinblick auf Vorher und Nachher" (Phys. IV xi 219b2; vgl. auch De Caelo I ix. 279a15) entwarf. Dieser hermeneutische Entwurf der Zeit ist bis heute gültig geblieben — selbst in der fortgeschrittensten mathematisierten Quantenphysik und Relativitätstheorie —, auch wenn heutige Chronometer (Uhren) die Zeit von viel schnelleren, regelmäßigen, periodischen Bewegungen wie das Erzittern der Moleküle eines Kristalls ablesen. 

Entscheidend für die Wissenschaft ist die Regelmäßigkeit der Bewegung/Veränderung, weil sonst die Wissenschaft keinerlei Handhabe hat; denn sie kann die Bewegung/Veränderung nicht fassen, d.h. vorhersagen, beherrschen. So macht Aristoteles in seiner Metaphysik konsequenterweise die wesentliche Unterscheidung zwischen der Bewegung kaq' au)to/ und der Bewegung kata\ to\ sumbebhko/j, .d.h. zwischen der Bewegung, die sich selbst gemäß ist, und der zufälligen Bewegung, die keinerlei Handhabe bietet, um sie wissend zu beherrschen. Die zufällige Bewegung scheidet deshalb aus der Wissenschaft aus. Diesen Ausschluß vollzieht Aristoteles ausdrücklich (Met. VI ii-iii; vgl. Entständigung Kap. II.iv). 

Die Wissenschaft richtet sich also ausschließlich auf Bewegungen, die irgendwie unter die Beherrschung eines einsichtigen, voraussehenden, vorausberechnenden Wissens gebracht werden können. Dies geht so weit, daß in der modernen mathematisierten Wissenschaft es durchaus genügt, daß die betrachtete Bewegung/Veränderung eine gewisse Regelmäßigkeit aufweist, die statistisch quantitativ als eine Wahrscheinlichkeit gefaßt werden kann. Dies reicht schon, um zumindest Trends vorherzusagen. So bleibt die Bewegung/Veränderung einigermaßen vorausberechenbar, worauf es in der Wissenschaft wesentlich ankommt. Denn sonst wäre sie ja keine Wissenschaft. 

Die Vorhersehbarkeit von Bewegung/Veränderung beruht auf dem Aristotelischen metaphysischen bzw. ontologischen Seinsentwurf der Bewegung als solcher: Eine Kraft (du/namij) wirkt auf einen Stoff (u(/lh), dem es an Form mangelt (ste/rhsij), und ist am Werk (e)n-e/rg-eia), um sie end-lich (e)n-tel-e/xeia) in die vorausgesehene Form (ei)=doj) zu bringen. In der Neuzeit, die mit dem 17. Jahrhundert einsetzt, wurde diese Ontologie der Bewegung keineswegs durch einen vermeintlichen Abschied von Aristoteles verworfen — wie es die modernen Wissenschaftler gern hätten —, sondern lediglich mathematisiert — in erster Linie durch Newton und Leibniz mit dem infinitesimalen Kalkül, d.h. dem Zählen von unendlich kleinen Größen. Selbst der Übergang zur Relativitätstheorie und Quantenphysik in der mathematisierten Physik mit Einstein u.a. hat an dieser wirkkausalen Ontologie der Bewegung nichts geändert, auch wenn die angeblich experimentelle "Entdeckung" der sog. "Unbestimmtheit" in der Bewegung von subatomaren Entitäten wie Elektronen usw. den festen wissenschaftlichen Glauben an der linearen Wirkkausalität in Unruhe versetzt hat. Nach wie vor bleibt die Bewegung/Veränderung aber innerhalb gewisser Grenzen vorauskalkulierbar, und die sog. "Evolution" eines dynamischen Quantenzustands soll nach wie vor mittels Teildifferentialrechnungen voll determiniert sein. 

Diese Vorausberechenbarkeit setzt wiederum die lineare, eindimensionale, mittlerweile mathematisierte Zeit als reale Variable t unbedingt voraus. Bis heute wird die mathematisierte Physik als die leitende Grundwissenschaft angesehen, die im Prinzip alle Bewegungen/Veränderungen wissenschaftlich — von den chemischen Reaktionen bis hin zu den kompliziertesten biomolekularen Lebensprozessen — wirkkausal soll erklären können. So der gegen alle Erschütterungen sich gewappnet wähnende, gefestigte und verschanzte wissenschaftliche Glaube heute. 

2. Die griechische Bestimmung des transzendenten Metaphysischen als des Akinaeton 

Die altehrwürdige Unterscheidung zwischen dem Sein und dem Werden findet sich maßgebend ausgedrückt in Platons Timaios. Dort (27d-28a) wird das Werden als das Kinaeton, das Bewegliche entworfen, während das Sein selbst bloß negativ als das Unbewegliche bestimmt wird. So bleibt das Sein selbst in der griechischen Philosophie ohne eigenständige Wesensbestimmung, sondern lediglich dem Werden bzw. dem Beweglichen/Veränderlichen gegenüber abgegrenzt. 

Auch der Großteil der Aristotelischen Metaphysik befaßt sich mit dem physisch beweglichen Seienden (to\ kinou/menon) als solchen; sie ist in erster Linie eine Ontologie des physisch Beweglichen und enthält in Buch Theta die Aristotelische Ontologie der Bewegung, d.h. das Physische wird griechisch gedacht und erfahren als das Bewegliche. Die Aristotelische Physik ist deshalb genauso metaphysisch, d.h. ontologisch, wie der Großteil der Metaphysik selbst. Erst die letzten Bücher der Metaphysik befassen sich mit dem Über-das-Physische-Hinausgehenden, d.h. mit dem Meta-Physischen im traditionell verstandenen Sinn, das im Buch Lambda ausdrücklich als das Akinaeton entworfen wird. Bekanntlich wird das transzendente Meta-Physische vor allem mit dem Göttlichen identifiziert. Die letzten Bücher der Aristotelischen Metaphysik bilden daher bis heute das Fundament der philosophischen, Christlichen Theologie, die ihrerseits eine verkürzte, verzerrende Übernahme und Vereinnahme der Aristotelischen Philosophie überhaupt darstellt. 

Diese philosophische Theologie ist wesenhaft eine negative, weil sie als eine e)pisth/mh qeologikh/, d.h. eine theologische Wissenschaft, des A-Kinaeton als solchen entworfen wird, und sich so maßgeblich mit negativen Bestimmungen wie dem unveränderlich, ständig Immerseienden, dem Nichtkörperhaften, dem Nichträumlichen, dem zeitlos Ewigen begnügen muß. Die metaphysische Theologie ist transzendent in dem Sinn, daß sie vom Jenseits der Bewegung/Veränderung handelt. 

Insbesondere soll hier festgehalten werden, daß auch diese philosophische Theologie von einer positiven Wesensbestimmung der Zeit abhängt, denn das Zeitlose hat erst dann einen Sinn, wenn die Zeit selbst als solche begriffen wird (s.u.). 

3. Das Leben als Selbstbewegtheit 

Das griechische Denken entwirft auch das Leben selbst von der Kinaesis her. Während das Physische überhaupt als das kinou/menon, d.h. das Bewegliche, in seinem Sein entworfen wird, wird das Leben als das Sichselbstbewegende/verändernde bestimmt. Das Leben hat ein Prinzip (a)rxh/) der eigenen Bewegung/Veränderung in sich. Während z.B. ein Stein sich etwa durch Verwitterung bewegen/verändern läßt, kann eine Pflanze sich selbst bewegen/verändern (ki/nhsij kaq' au)to/) etwa, indem sie wächst oder verwelkt oder sich der Sonne zudreht. 

Das Prinzip der Eigenbewegtheit als Seinsweise des Lebendigseienden wird griechisch yuxh/, Psyche, genannt. Alle Lebewesen sind griechisch als e)/myuxon, d.h. 'in der Psyche', 'beseelt', erfahren und entsprechend philosophisch gedacht. Diese Wesenbestimmung des Lebens selbst als beseelter Sichselbstbewegtheit widerspricht grundsätzlich der modernen Wissenschaft, die in ihrem Wesen auf die Wirkkausalität setzt, welche die ontologische Kluft zwischen dem Beweglichen und dem Sichselbstbewegenden irgendwie soll überbrücken können. Die moderne Wissenschaft muß das Leben als eine eigene Seinsweise leugnen, weil sie sonst in ihrem unbedingten Machtanspruch, jegliche Bewegungs/Veränderungsart wirkkausal zu beherrschen, beschnitten wird. Das Ursache-Wirkungs-Verhältnis hängt wesenhaft davon ab, daß das Seiende physisch als das Bewegliche (kinou/menon) und gerade nicht als das sichselbstbewegende Psychische ontologisch entworfen wird. So steht die moderne Wissenschaft im Ganzen grundsätzlich nicht nur dem metaphysisch-transzendenten Göttlichen, sondern auch dem sich-selbst-bewegenden Lebendigen feindlich gegenüber, was natürlich nicht ausschließt, daß einzelne Wissenschaftler — aber nicht als Wissenschaftler — durchaus problemlos religiös gläubig sein können, zumal sie bereits an die wissenschaftliche Methode blind glauben. 

4. Das Menschenwesen als eine besondere Selbstbewegtheit

Unten den sich-selbst-bewegenden Lebewesen gibt es auch den Menschen, der durch eine besondere Art der psychischen Selbstbewegtheit ontologisch ausgezeichnet wird. Die menschliche Psyche nämlich ist auch geistig. Der Geist (nou=j) ist in der Lage, das Seiende als ein solches in einen Anblick zu sammeln, in Umrisse zu Stande zu bringen und so zu verstehen und dieses Verständnis auch sprachlich zu artikulieren und auszusprechen. Der Mensch wird so griechisch als das Lebewesen, das den Logos hat, d.h. als to\ z%=on lo/gon e)/xon, erfahren, wobei dieser Logos sowohl als Geist, Vernunft, wie auch als Sprache verstanden wird. Der vernünftige Geist kann die Selbstbewegtheit des Menschen lenken. Der Mensch bewegt sich zeitlebens auch unter der Führung seines vernünftig verstehenden Geists. 

Aber nicht nur dies. Der Geist hat das Vermögen, sich auf sich selbst zurückzubiegen, d.h. über sich selbst zu reflektieren, und so sein eigenes Verständnis der physischen Welt in ihrer Bewegtheit/Veränderlichkeit zu verstehen. So wird das Verstehen an sich von Welt zu einem reflektierten An-und-für-sich-Verstehen von Welt, d.h. das implizite Sichverstehen wird explizit und so hermeneutisch-ontologisch. Der Mensch ist also des philosophischen Denkens fähig. Zumeist jedoch kommt der Mensch nicht soweit; er strebt zunächst und zumeist auf das, was er begehrt, und dieses Begehren ist an sich grenzenlos und wird meistens nur von anderen, entgegengesetzten, begehrenden Selbstbewegungen begrenzt. Er wird vom begehrenden Teil seiner Psyche getrieben und fällt so hinter den Anspruch, daß seine eigene Lebensbewegtheit von dem vernünftigen Geist geführt werden soll, weit zurück. Die Thematisierung dieses Kampfes zwischen dem vernünftigen und den begehrenden Teilen der Psyche ist so alt wie die Philosophie selbst. 

5. Das Widerspenstige der zufälligen Kinaesis 

Es wurde bereits oben bemerkt, daß die Bewegung kata\ to\ sumbebhko/j von Aristoteles aus der Betrachtung und Erforschung — und damit auch aus dem Herrschaftsanspruch der Wissenschaft — ausgeschlossen wurde und werden mußte. Die zufällige Bewegung ist widerspenstig, denn sie bietet keine Handhabe durch die Kausalität, die bei Aristoteles immerhin noch eine vierfache war. Sie hat weder einen vorhergesehenen leitenden Anblick (Form, ei)=doj) noch ein te/loj, bei dem sie vollendet wird, noch einen angebbaren, wirkenden Beweger (kinou=n), auch wenn sie einen Stoff (u(/lh) haben kann. Es kann insbesondere für die zufällige Bewegung/Veränderung keinen ai)/tioj, d.h. keine Ursache, keinen Grund, angegeben werden, der dafür 'angeklagt' (ai)tia/sqai) werden könnte. Bei der zufälligen Bewegung fallen alle ursächlichen Erklärungsversuche flach. Sie ist 'unbewirkt', sondern kommt einfach vor. 

Nun sind die meisten Bewegungen/Veränderungen trotz aller Beherrschungsanstrebungen gerade nicht durch eine Wirkkausalität beherrscht. Vieles passiert zufällig, gerade weil meistens viele Kräfte im Spiel miteinander sind. Spätestens dann, wenn die menschliche Freiheit ins Spiel kommt, wird die Selbstbewegtheit des Lebens selbst wesenhaft zu einem Spiel, denn die Lebensbewegtheit von jedem einzelnen Menschen hat einen nicht im voraus bestimmten, d.h. freien, Ursprung/Anfang (a)rxh/) seiner eigener Bewegtheit und zwar in einem pluralen Spiel mit anderen Menschen, die ebenfalls jeweils den Anfang ihrer eigener Bewegtheit in sich tragen. Dieses Spiel unter vielen Spielern ist ein Kräftespiel, in dem jeder Mensch seine Lebenskräfte zu einem bestimmten Zweck bzw Ziel ins Werk setzt. Ob aber dieser Zweck erfüllt bzw. dieses Ziel erreicht wird, unterliegt den vielen Zufällen des Kräftespiels selbst, das durch das Wechselspiel (interplay) unter vielen Kräften und Gegenkräften in unzähligen, oft völlig überraschenden Spielarten ausgespielt wird. 

Bezogen auf den Menschen kann das Kräftespiel passenderweise auch Machtspiel genannt werden — vor allem deshalb, weil es nicht bloß physische Kräfte sind, die in der menschlichen Lebensbewegtheit ins Spiel kommen. Es sind immer Wertschätzspiele, die unter den Menschen gespielt werden. In ihrem Umgang miteinander schätzen sich die Menschen gegenseitig ein im Hinblick auf ihre Fähigkeiten, Vermögen, gesellschaftlichen Status usw., wobei die Spieler sich oft genug verschätzen. Das Wertschätzspiel umfaßt Spielarten wie Schätzen, Einschätzen, Abschätzen, Über- und Unterschätzen, Hoch- und Niedrigschätzen, Verschätzen. Der Ausgang eines Wertschätzpiels unter Menschen — selbst lediglich unter zwei Menschen — bleibt immer und wesenhaft ungewiss, unvorhersehbar, unkalkulierbar, unbestimmbar sowie oft überraschend. 

Dieses unendlich komplexe Kräfte- und Machtspiel der menschlichen Lebensbewegtheit entzieht sich der Beherrschung durch eine irgendwie geartete Wissenschaft, und sei es eine sog. Chaostheorie. Da das Leben überhaupt wesenhaft von Selbstbewegtheit gekennzeichnet ist, und die Lebewesen auch ein komplexes Kräftespiel der unendlich vielfältigen Lebensbewegungen miteinander spielen, ist auch daran zu zweifeln, ob die heutige Wissenschaft trotz aller kalkulierenden Anstrengung es jemals wird wissend beherrschen können. Dieses Scheitern an der zufälligen Bewegung will die Wissenschaft nicht hinnehmen und leugnet entschieden ihre eigene Wesensbegrenztheit. Nichtsdestoweniger zeigt sich hier eine wesentliche Grenze des wissenschaftlichen Willens zur wirksamen Macht über die Bewegung/Veränderung. Die Weisheit würde darin bestehen, diesen unbedingten Machtanspruch loszulassen, von ihm zurückzutreten, und auf ihn zu verzichten. 

6. Der Anfang der Weisheit durch die Öffnung der Zeit

Das Denken wurde immer schon vom Meinen und Glauben überrollt und als anstrengend, mühsam und hinderlich beiseite geschoben. In der Neuzeit kommt die Wissenschaft mit ihrem unendlichen Willen zur effektiven Macht über die Bewegung/Veränderung hinzu. Sie will sich auf keinen Fall durch irgendwelche Überlegungen zum Wesen der Bewegung oder der Zeit aufhalten. Durch ihren eigenen Machtanspruch verblendet muß sie die Seinsweise des Zufälligen überhaupt leugnen. Schon längst hat sie das philosophische Denken aus sich ausgeschieden und ist nicht mehr fähig, hermeneutisch-ontologisch zu denken. Sie weiß nichts von ihrem eigenen neuzeitlichen hermeneutischen Entwurf, der entwirft, als was das Seiende im Ganzen sich zeigt, nämlich als wirkkausal mathematisierbar. Sie glaubt, sie könne zirkulär ihre eigenen Grundlagen wissenschaftlich-experimentell absichern, ohne jemals den hermeneutisch-ontologischen Charakter ihrer eigenen wissenschaftlichen Methode in den Blick zu bekommen. So will sie etwa durch die neuere Neurowissenschaft experimentell nachweisen, daß es den freien menschlichen Willen gar nicht gibt. Dabei muß diese Neurowissenschaft fraglos voraussetzen, daß der Geist mit dem Gehirn ohne weiteres gleichgesetzt werden kann. Aber kann er so identifiziert werden? 

Wie oben bereits umrissen, geht der unbedingte Glaube der Wissenschaft an der Wirkkausalität mit einem bestimmten Verständnis der Zeit selbst einher, die als einäugig eindimensional linear entworfen werden mußte und letztlich noch mathematisiert wurde. Außerdem wurde ebenso festgestellt, daß das Sein selbst wesenhaft negativ von der Bewegung her verstanden wurde, was wiederum als Basis diente, von der her die lineare Zeit gezählt worden ist. So wird diese lineare Zeit von der Bewegung abgeleitet, die dann aber wiederum dem wissenschaftlichen Machtanspruch der Beherrschung der Bewegung durch wirkkausale Erklärungen, d.h. wissenschaftliche Theorien, unterworfen wird. Dieses Verständnis der Wirkkausalität hängt wesentlich von der eindimensionalen Linearität der Zeit selbst ab, denn die Ursache ist das zeitlich Frühere, das die zeitlich spätere Wirkung beherrscht. So läßt sich die Bewegung wissenschaftlich vorhersagen und vorausberechnen. 

Es gibt jedoch eine übersehene, aber entscheidende Zirkularität in der berühmten Aristotelischen Wesensbestimmung der Zeit als "die Zahl der Bewegung im Hinblick auf Vorher und Nachher", denn gerade dieses "Vorher und Nachher" ist selbst eine zeitliche Bestimmung. So setzt die Wesensbestimmung der Zeit selbst ein Vorverständnis der Zeit bereits voraus. Diese letztere Zeit ist eine urspünglichere als die nacheinander gezählte, lineare Zeit. Sie läßt sich nicht zählen und linear einordnen, sondern stellt im Gegenteil die implizit vorausgesetzte, und deshalb bisher ungedachte, Ermöglichung von Bewegung/Veränderung überhaupt dar. Die Bewegung/Veränderung setzt nämlich wesenhaft das Vorher und das Nachher sowie die Gegenwart voraus. Um die Bewegung selbst philosophisch-ontologisch zu sehen, muß man bereits zuvor diese drei Dimensionen der ursprünglichen Zeit selbst 'gleichzeitig' gesehen haben, wobei hier 'gleichzeitig' eine andere Bedeutung angenommen hat. Als nicht linear (ein)geordnet sind sie voneinander unabhängige, freie Dimensionen, die mehrere Dimensionen der Beweglichkeit ermöglichen. 

7. Hermeneutische Chronophasis 

Wenn also das Sein selbst implizit negativ vom Werden bzw. von der Bewegung her philosophisch verstanden wurde, und die Bewegung wiederum innerhalb der Dreidimensionalität von Vorher, Nachher und Gegenwart stattfindet und nur so gesehen werden kann, dann wird die Zeit selbst zu einer dreidimensionalen Lichtung vor der Bewegung überhaupt. Diese Zeitlichtung ist kein Raum, denn sie ist vorräumlich, genauso wie festzuhalten ist, daß nicht alle Bewegung — wie z.B. die Bewegung des denkenden Geists — räumlich ist. Die Bewegung als Bewegung von Bewegtem und Sichbewegendem wird immer schon implizit als in die zeitliche Dreidimensionalität eingebettet gesehen, wobei das Vorher und Nachher als Arten der Abwesenheit verstanden werden müssen und die Gegenwart als Anwesenheit. Die Bewegung selbst wird so zu einem vielfältigen Spiel der An- und Abwesung in der dreidimensionalen Zeitlichtung, die wiederum durch den zeitlich dreiäugigen, dreidimensionalen Blick vom Menschengeist auch gesehen, d.h. verstanden werden kann. In diesem Sinn kann der Geist mit der Zeit, d.h. mit der dreidimensionalen Zeitlichtung, identifiziert werden, sie sind das Selbe. Diese Einsicht rechtfertigt, dem Wort 'Zeitgeist' eine neue Bedeutung zu geben, und zwar als Zusammengehörigkeit von Zeit und Geist. Ohne dieses zeitlich dreiäugig-dreidimensionale geistige Sehvermögen könnte der Mensch die Bewegung/Veränderung als solche gar nicht sehen. Dieser 'Urzustand' wird heute überall grundsätzlich übersehen und übersprungen. Die moderne Wissenschaft muß sogar unbedingt behaupten, daß ein bewegendes Seiendes nur im Zeitpunkt des Jetzt, d.h. in dem Jetzt, wann es experimentelle Daten liefert, beobachtet werden kann. Wenn das aber so wäre, dann wäre es überhaupt unmöglich, irgend etwas in Bewegung zu sehen! (Vgl. Zenons Paradoxon.)  

Von daher gesehen ist das Ontologische eine ungenügende Bezeichnung für die philosophische Tiefendimension, welche die philosophischen Denker von Anfang an im Blick hatten (ein Blick, der unter den heutigen sog. Philosophen zunehmend verloren geht). Das Sein selbst muß heute als das Spiel der An- und Abwesung in der Zeitlichtung gesehen, verstanden und explizit hermeneutisch entworfen werden, denn das Ontologische ist eigentlich das Zeitliche, das Ab- und Anwesen, das die Bewegung und die Welt zuerst überhaupt lichtet. Wir Menschen haben diese 3D-Zeit immer schon gesehen und gut verstanden aber dabei uns nichts gedacht. Daher macht die Philosophie nur das klar, was wir schon verstehen; sie sagt nichts Neues. 

Da zudem der Logos selbst immer schon in den Dienst genommen wurde zur Beherrschung der Bewegung, wäre es angemessen, wenn, einem Vorschlag des späten Heidegger folgend, die Phänomenologie in "Phänomenophasis",(2) 'das Sagen von den Phänomenen', umbenannt würde. Das tiefste Phänomen, das wir Menschen bisher in den Blick bekommen haben, ist die Zeit selbst, oder besser, die Zeitlichtung, die tiefer liegt als die Bewegung und auch tiefer als das, d.h. vor dem Sein, gleichgültig ob es als das unveränderlich Immerseiende oder aber als der hermeneutische Seinsentwurf einer geschichtlichen Zeitepoche verstanden wird. Da aber die Chronologie bloß die Einordnung der Vorkommnisse in das Nacheinander der linearen Zeit bedeutet, wird die bisherige Ontologie als der Logos des Seins des Seienden innerhalb einer geschichtlichen Zeitepoche zur Chronophasis, 'das Sagen von der Zeit' (von fa/nai 'sagen'), und zwar zur hermeneutischen Chronophasis, zum 'hermeneutischen Sagen von der Zeit'. Die hermeneutisch-chronophatische Phänomenologie ist demnach bestimmt als das hermeneutische Sagen der sichzeigenden Phänomene von der Zeitlichtung her. 

Chronophatisch, d.h. von der Zeitlichtung her gesehen, läßt sich die Bewegung als das Zeitspiel der Ab- und Anwesung vom Bewegten nicht beherrschen, wohl aber sagen. Ohnehin bezeugt das Beherrschenwollen einen beschränkten, einäugigen, machtbesessenen Blick. Dennoch verlangt die geschichtliche Bewegung in der epochalen Zeitlichtung eine Deutung, um zu sagen, als was diese geschichtliche Bewegtheit sich zeigt. Dies ist die hermeneutisch-chronophatische Aufgabe für das weise Denken. Der Anfang der Weisheit besteht dann darin, vom unbedingten, totalitären Herrschaftsanspruch der Wissenschaft in ihrem Festhalten an der eindimensionalen, linearen Zeit zurückzutreten, um dem Geist einen explizit dreiäugigen Blick auf das unbeherrschbare zeitliche Bewegungsspiel der Ab- und Anwesung zu gewähren. 
 


    Anmerkungen
    1. Herzlichen Dank an Astrid Nettling für wertvolle kritische Bemerkungen. Zurück zu 1.

    2.  
    3. Auszüge zur Phänomenologie aus dem Manuskript 'Vermächtnis der Seinsfrage' (1973-75) II 125 Jahresgabe der Martin Heidegger Gesellschaft 2011/12. Zurück zu 2.

    4.  


    Copyright (c) 2016 by Michael Eldred, all rights reserved. This text may be used and shared in accordance with the fair-use provisions of U.S. and international copyright law, and it may be archived and redistributed in electronic form, provided that the author is notified and no fee is charged for access. Archiving, redistribution, or republication of this text on other terms, in any medium, requires the consent of the author.

    Back to artefact homepage
    artefact