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Diverse Writings 31

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Adornos Philosophie der Musik(1)

Verfehlen eines Phänomens

Michael Eldred

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artefact text and translation
Cologne,
Germany

Last modified 10-Feb-2018
Version 1.0 Jan.-Feb. 2018
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Inhaltsverzeichnis

Als e-Broschüre

0. Abstract

1. Die verloren gegangene raison d'être von Musik

2. Die Sprach(un)ähnlichkeit der Musik

 3. Musikalische Zeit 

  4. Abschied vom Sprachcharakter der Musik

5. Reine Durchkonstruktion und Ausdruckskraft beim späten Schönberg

6. Musikkritik nur als Gesellschaftskritik?

 
The mood makes the music.

0. Abstract

Adorno ist berühmt vor allem wegen seiner Philosophie der Musik, die einen großen Teil seiner Gesammelten Schriften umfaßt. Die vorliegende Studie unternimmt eine genaue Analyse von zwei längeren Aufsätzen Adornos — 'Über das gegenwärtige Verhältnis von Philosophie und Musik' aus dem Jahr 1953 und 'Zur gesellschaftlichen Lage der Musik' aus dem Jahr 1932 —, um zu zeigen, daß mit seiner Grundthese, die Musik sei sprach(un)ähnlich, es Adorno nicht gelingt, das Phänomen Musik adäquat zu begreifen. Vielmehr gibt es einen alternativen Weg zur Musik, der das Phänomen der Gestimmtheit ins Spiel bringt. Zudem wird in Frage stellt, sowohl daß er die Philosophie auf eine kritische, dialektische Gesellschaftstheorie reduziert, als auch daß der "avanciertesten Kompositionstechnik" eines Schönbergs der Vorrang gegeben wird. 

English: Adorno is especially famous for his philosophy of music which comprises a major part of his Collected Writings. The present study undertakes a detailed analysis of two of Adorno's longer essays — 'On the present relationship between philosophy and music' from 1953 and 'On the social situation of music' from 1932 — in order to show that with his basic thesis that music is (un)like language, Adorno does not succeed in adequately conceptualizing the phenomenon of music. Rather, there is an alternative path to music that brings the phenomenon of attunement into play. It is also questioned not only that philosophy is reduced to a critical, dialectical social theory, but also that the "most advanced technique of composition" of a Schönberg is given precedence. 

1. Die verloren gegangene raison d'être von Musik(2)

1953 — nach seinem langen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten und seiner Rückkehr nach Frankfurt stellt Adorno in seinem Aufsatz 'Über das gegenwärtige Verhältnis von Philosophie und Musik' fest, daß die Musik in der Krise sei, und das seit langem. "Das Recht der Musik — von aller Musik —, überhaupt dazusein, wird fragwürdig." (VPM:149)(3) Überhaupt ist in diesem Aufsatz viel von der verloren gegangenen "raison d'être von Musik" (VPM:151, 152, 154, 166, 169, 176) die Rede, was nicht nur mit dem "Charakter der Ware, den sie [die Musik] in der Gesellschaft universell angenommen hat" (VPM:150) zu tun habe. Freilich scheiden die "Schlager" (VPM:149) als Musik sofort aus, aber auch die "klassische Musik" (ebd.) gliedere sich "als eine Sparte unter dem Einerlei" innerhalb der "Sphäre der informierten Barbarei" (ebd.) ein. 
 
Angesichts dieser schicksalhaften geschichtlichen Lage können die Komponisten entweder "die Nivellierung auf eigene Rechnung betreiben" (VPM:150) oder aber "durch die Wendung zum Extrem der Tendenz sich widersetzen, mit der Aussicht [...] als Spezialität zu verdorren". (VPM:151) "Musik, die sich die Treue hält, möchte lieber gar nicht sein, [...] wie es so oft bei Webern heißt, verlöschen, als ihre Essenz verraten." (ebd.) Die Rede ist von großer Musik "von Bach über Beethoven bis Schönberg [...] eine[r] vergängliche[n] Kategorie [...] gebunden ans bürgerliche Zeitalter und dem Vergessen geweiht" (ebd.). Verfallformen dieser Größe werden durch Namen wie Strawinsky und Hindemith repräsentiert. Bei der Lektüre von Adornos Schriften zur Musik überhaupt — den frühen sowie den späten — bekomme ich den Eindruck, daß für ihn genuine, eigentliche Musik sich nur ganz spärlich an ein paar großen Komponistennamen der bürgerlichen Epoche festmachen läßt. 
 
Wenn nun die Philosophie versucht, Licht auf diesen Krisenzustand der Musik zu werfen, wird ihr "die Frage zugeschoben, was Musik überhaupt sei" (VPM:151), ein vergebliches Unterfangen, da es mit der Unmöglichkeit konfrontiert wird, "an der Musik irgendeine singuläre Kategorie zu bezeichnen, durch die man umfassend ihren Sinn, das also, um dessentwillen sie ihr Daseinsrecht hat, unmittelbar bestimmen könnte." (VPM:152) Hingegen müsse zur Kenntnis genommen werden, "daß an aller Musik ein durchaus Rätselhaftes hervortritt". (ebd.) Wie aber aus dem "Rätselcharakter von Musik" (ebd.) ihre raison d'être ableiten? "Sagt Musik, nach Schönbergs Wort, in der Tat ein nur durch Musik Sagbares aus, so nimmt sie damit ein Abgründiges und zugleich im emphatischen Sinn Zufälliges an". (ebd.) Somit kündigt sich schon hier die von Adorno behauptete "Sprachähnlichkeit" (VPM:154) von Musik an, aber auch ihre Abgründigkeit und Zufälligkeit. Worin besteht nun die Abgründigkeit, d.h. das Fehlen jeglichen Grundes, worin die Zufälligkeit der Musik, d.h. das Fehlen von Notwendigkeit und Regelmäßigkeit? Aber ebenso das Fehlen von Sinn in der Musik? Denn ein verständlicher Sinn läßt sich zur Sprache bringen, während der "Rätselcharakter von Musik" sich "sprachlichen Gebilden" (VPM:153) verweigere. 

2. Die Sprach(un)ähnlichkeit der Musik 

"Ihr Rätsel äfft den Betrachter, indem es ihn dazu verführt, als Sein zu hypostasieren, was selber Vollzug ist, ein Werden..." (VPM:154) Die Musik sei also kein statisches Sein, sondern ein Werden, Bewegung, wobei Adorno den altehrwürdigen Gegensatz zwischen Sein und Werden ins Spiel bringt, als könnte die Bestimmung ihres rätselhaften Charakters auch für die Philosophie der Musik durch einen metaphysischen Umzug vom Sein zum Werden gefunden werden. Wie ich versuche zu zeigen,(4) kann der "Rätselcharakter von Musik" nicht so aufgelöst werden. 
 
"In Musik geht es nicht um Bedeutung sondern um Gesten." (VPM:154) Solche Gesten sind "als menschliches Werden ein Verhalten". (ebd.) Damit wird die Bewegung von Musik als eine menschliche, gestische Bewegung gedeutet, und — wie Adorno ganz unvermittelt proklamiert — die Gesten der Musik kreisten um das unsagbare Sagen des Namens: "Da aber Musik den Namen — das Absolute als Laut — nicht unmittelbar weiß, sondern [...] um dessen beschwörende Konstruktion durch ein Ganzes, einen Prozeß sich bemüht, so ist sie zugleich selbst verflochten in den Prozeß, in dem Kategorien wie Rationalität, Sinn, Bedeutung, Sprache gelten." (ebd.) Somit ist die Musik durch ihre Sprachähnlichkeit der Sprache sowohl unähnlich als auch unähnlich. Ihre Unähnlichkeit zur Sprache verwickelt sie in "Sinn, Bedeutung, Sprache", während ihre Unähnlichkeit sie — wiederum von Adorno nicht erläutert — auf die sinnlose Bewegung einer Geste, auf "die säkular festgehaltene Form des Gebets" (VPM:155) reduziert. Mit der Einführung des jüdisch-theologisch aufgeladenen Terminus des "Namens" — "das Absolute als Laut" — bindet sich Adorno unweigerlich an eine wie auch immer säkularisierte theologische Tradition, die die Einsicht in das Phänomen — das der Musik selbst — als solches verstellt und verhindert. Auch die Wesensbestimmung der Musik als sprachähnlich und damit auch als sprachunähnlich vermag eine bloß negative Bestimmung des Wesens der Musik zu geben. 
 
Dies läßt Adorno — vermutlich dialektisch — zwischen einem Positiven und Negativen hin und her pendeln, ohne das Eigene des Phänomens der Musik in den begrifflichen Blick zu bekommen. So opponiert er gegen jedweden Versuch "der Begründung einer musikalischen Ontologie" (VPM:156) etwa der Art, "Musik sei eine Sprache sui generis" (VPM:157), und zwar wegen "der äußersten und vagsten Allgemeinheit" (ebd.) solcher apriorischen Bestimmungsversuche, die letztlich nichts als "säkularisierte Erbschaft des magisch abgesonderten, kultischen Bereiches" (ebd.) seien. Damit verwirft Adorno ungewollt implizit seinen eigenen säkularisierten theologischen Bestimmungsversuch der Musik als eine umkreisende, gestische Bewegung um den Namen des Absoluten. 
 
Wichtig für Adorno ist zu konstatieren, daß das Musikkomponieren kein bloß internes Glasperlenspiel ist, sondern auf Äußeres in der geschichtlichen Welt draußen — wie etwa im "Nachhall von Marsch- und Kriegsmusik in der großen Symphonik" (ebd.) — verweist. Auf solche "realen, außerästhetischen Chocs und Seelenregungen, aus deren Protokollen die neue musikalische Formsprache zusammenschoß". (ebd.) Solche Importe aus der realen Geschichte unterstreichen die Sprachähnlichkeit von Musik als Übersetzungsleistung. Aber, daß "das von Musik 'Gesagte', wenn es so etwas gibt, offenbar der Übersetzung in andere Medien weit größere Widerstände entgegensetzt als andere Kunst," (ebd.) besagt andererseits, daß die "Musik den Prototyp der Unübersetzbarkeit bietet," (ebd.) wodurch die Sprachunähnlichkeit von Musik wiederum hervorgehoben wird. Solche eigentümliche Unübersetzbarkeit der Musik stehe im Widerspruch etwa zu dem von Schumann geforderten und vor allem von Wagner praktizierten romantischen Programm eines "Gesamtkunstwerks" (VPM:158), wobei laut Adorno, "[m]it anwachsender Integration der bürgerlichen Kultur im neunzehnten Jahrhundert [...] die Schumannsche Forderung dringlich erscheinen" (ebd.) mußte. Damit verweist Adorno noch einmal auf ein Außermusikalisches, das der Musik Sinn verleiht und das zugleich "das dialektische Ferment der Musik in der Gesamtentwicklung" (ebd.) der Geschichte hervorkehrt, in der die Musik eine "antithetisch[e]" (ebd.) Rolle im dialektischen "Prozeß der gesamteuropäischen Aufklärung" (ebd.) spielt. Einerseits ist für Adorno also die Musik die gestisch umkreisende Bewegung um ein schlechterdings Unsagbares, und andererseits hat sie durch das Eindringen der realen geschichtlichen Bewegung von Außen in sie einen sagbaren Sinn und gar eine integrative oder eine dialektisch opponierende Funktion. 

3. Musikalische Zeit 

Neben solchen Überlegungen zum Sinn und zur Sinnlosigkeit von Musik, zu ihrer Sprachunähnlichkeit und Sprachunähnlichkeit führt Adorno auch die Bestimmung der Musik als die "Zeitkunst" (VPM:158) mit ihrer eigenen "musikalische[n] Zeit" (ebd.) ein. Diese sei die "wirklich musikalische", (ebd.) die mit der Zeit "des chronologischen Verlaufs nicht zusammenfällt" (VPM:159). Daß die musikalische Zeit "in einem Vokalsatz Palestrinas, einer Fuge des Wohltemperierten Klaviers, dem ersten Satz der 7. Symphonie, einem Prélude von Débussy und einem auf zwanzig Takte verkürzten Quartettsatz von Anton von Webern unendlich differiert", (VPM:158) könne kaum verkannt werden. Als eine jeweils "konkrete Weise der Vermittlung des Sukzessiven" (ebd.) differiert die musikalische Zeit bei verschiedenen Komponisten in verschiedenen Perioden, wobei mit dem Hinweis auf das Sukzessive die Kantische Bestimmung der inneren Zeit des Bewußtseinssubjekts als eines Nacheinanders anklingt. Deshalb auch die Rede vom "musikalisch-inhaltlich vermittelte[n] Zeitbewußtsein" (VPM:158) und von der "spezifisch eigene[n] [...] Zeiterfahrung" (VPM:159) in der Musik von Webern oder Bach. Diese jeweils spezifisch "musikalisch gesetzte Zeit" (ebd.) sei aber ein Charakteristikum der eigenen unendlich vermittelnden Bewegung der jeweiligen Musiken selbst. 
 
Woher aber hat der Komponist seine spezifisch "musikalisch gesetzte Zeit", die eine eigene "innere Historizität" (ebd.) verschiedener Musiken von Palestrina bis Webern aufzeigt? Diese innere Historizität sei "stets zugleich auch Reflexion der realen, auswendigen[, ...] das Echo zum reflektierten Laut" (ebd.), womit der historisch-materialistische Ansatz Adornos deutlich zum Vorschein kommt: 
Die eigentlich dynamische Entwicklungszeit der Musik, deren Idee der Wiener Klassizismus auskristallisiert hat, jene Zeit, in der das Sein selber zum Prozeß und zugleich zu dessen Resultat gemacht ward, ist nicht genetisch bloß, sondern ihrer Substantialität nach die gleiche, welche den Rhythmus der emanzipierten und das eigene Kräftespiel als Stabilität auslegenden bürgerlichen Gesellschaft ausmachte. (VPM:159) 
Die Zeit der musikalischen Bewegung sei also Reflexion von und Antwort auf die aus dem eigenen Kräfte- und Machtspiel resultierende Bewegtheit der realen Geschichte in der bürgerlichen Epoche. Deshalb behauptet Adorno sogar eine "bis ins Einzelne nachweisbare Verwandtschaft der Hegelschen Logik mit der Beethovenschen Verfahrensweise, die um so schwerer wiegt, als jeder Gedanke an Beeinflussung [...] unbedingt ausscheidet". (ebd.) Adorno bleibt allerdings den Nachweis dieser Verwandtschaft schuldig. Die von Adorno behauptete musikalische Zeit ist in Wahrheit die Zeit der musikalischen Bewegung, die wiederum eine Reflexion vor allem der emanzipativen Bewegtheit der bürgerlichen Epoche im Sog der Französischen Revolution ist. Mit dieser Feststellung Adornos eines Reflexionsverhältnisses zwischen der musikalischen und der geschichtlichen Bewegung sei es ihm zufolge unmöglich, bei dem "Versuch einer musikalischen Ontologie" (ebd.) die "reine[] Seinsfrage" (ebd.) zu stellen und zu beantworten. "Vielmehr ist die jeglicher Musik immanente Zeit, also ihre innere Historizität, / die reale geschichtliche Zeit, reflektiert als Erscheinung." (VPM:159f) 
 
Mit dieser Setzung einer historisch-materialistischen Grundhypothese hat nach Adorno die Musik — "die vorgeblich irrationalste Kunst" (VPM:160) — nichtsdestotrotz "ihr Wesen" (ebd.) und zwar in der "geschichtliche[n] Bewegung" (ebd.), an der sie teilhat, wodurch sie zur geschichtlichen "Aufklärung" (ebd.) beiträgt. "Diese Bewegung ist aber gleichbedeutend mit dem Fortschritt ihrer Reflexion in sich selbst, der Herrschaft über bloß Natürliches, kurz: mit ihrer anwachsenden Subjektivierung und Humanisierung". (ebd.) Also: mit der Befestigung der Subjektivität als Wesensbestimmung der Menschen auch durch die Musik und damit einhergehend mit der Stärkung des Willens zur Macht über bloß Natürliches? 
 
Die behauptete Entsprechung zwischen der musikalischen und der realen geschichtlichen Zeit ist eigentlich nur eine zwischen der musikalischen und der realen geschichtlichen Bewegung. Denn Adorno hat stets nur die traditionelle Bestimmung der Zeit als ein Abgezähltes von der Bewegung im Sinn — ursprünglich von den Himmelsbewegungen der Sterne und der Planeten —, auch wenn er sich mit der Unterscheidung zwischen der musikalischen und der chronologischen Zeit dagegen zur Wehr setzt. Daß umgekehrt die Bewegung von einer ursprünglichen, dreidimensionalen, vorbeweglichen Zeit ermöglicht werden könnte, liegt wie bei den meisten im jetzigen Zeitalter jenseits des Denkhorizonts. Damit aber verpaßt er die Möglichkeit — vor allem durch seine hartnäckige Ablehnung der Möglichkeit einer Ontologie der Musik —, die musikalische Zeit auf eine radikal andere Weise zu denken.(5)  Stattdessen gibt sich Adorno mit einem historisch-materialistischen, 'dialektischen' Mit- und Gegenspiel zwischen zweierlei Bewegungsarten zufrieden. Kann eine solche Entsprechung mehr als bloße Plausibilität für sich beanspruchen? 

4.Abschied vom Sprachcharakter der Musik

Die Angleichung der innermusikalischen Zeit an die reale geschichtliche Zeit als Reflexion aber ist — so Adorno — nichts anderes, als "wenn man den Prozeß als einen der Sprachwerdung bezeichnet". (VPM:160) Dies soll aber nicht auf eine "ontologische Definition von Musik als einer Sprache sui generis" (ebd.) hinführen, die "entweder so abstrakt [ist], daß sie nichts anderes ausspricht, als daß zwischen den einzelnen musikalischen Tatsachen ein artikulierter und auf seine eigene Weise 'logischer' Zusammenhang herrscht" (ebd.), oder "jene Definition der Musik der Sprache läuft abermals darauf hinaus, [...] die geschichtliche Tendenz der Musik zur Invarianten zu stempeln". (ebd.) Damit verkennt er die dialektische Einsicht, daß jede Differenz Identität voraussetzt, sowie umgekehrt. Vielmehr bestehe einerseits der "spezifische Sprachcharakter der Musik [...] in der Einheit ihrer [...] Verdinglichung mit ihrer Subjektivierung". (ebd.) Jene Verdinglichung bzw. Objektivierung "involviert [...], daß Musik, durch ihre Verfügung über das Naturmaterial, sich in ein mehr oder minder festes System verwandelt [...] als ein 'Idiom', das in weitem Maße durch die Tonalität gegeben ist und dessen Macht noch in der gegenwärtigen Tonalität fortwirkt" (VPM:161) — also, die Sprache der Musik als eine systematische Herrschaft über das Naturmaterial. Andererseits aber bestehe ihr Sprachcharakter in der "Nachahmung" dessen, was im angeblichen "menschlichen Innern sich zuträgt" (ebd.), d.h. im Ausdruck des Subjekts. Diese "beiden Momente" (ebd.) ihres Sprachcharakters aber stellen einen "Widerspruch" (ebd.) dar. Daher resultiere die "gegenwärtige Krise, die Bedrohung des Existenzrechts der Musik [...] wesentlich aus dem Verhältnis jener beiden Momente". (ebd.)
 
Denn einerseits habe die "Objektivität der Zeichen" im tonalen System der Harmonik "sich aufgelöst", (ebd.) so daß sie aufhöre "Idiom zu sein". (ebd.) Andererseits "aber zergeht in eins mit eben diesem objektiven Element der Ausdruck, dessen Steigerung zunächst gerade die objektiv traditionelle Seite der musikalischen Sprache negierte. Die zeitgenössische Musik sieht sich einer Aporie gegenüber." (ebd.) Ihre Sprache höre auf, "etwas zu sagen" (VPM:162), während aus "der Dialektik [...] am Ende das Naturmaterial bedrohlich rein" (ebd.) hervortrete — wie dies für Adorno mit dem Aufkommen der "integralen Kompositionstechnik" (VPM:167) der seriellen Musik (vgl. VPM:173f) sichtbar wurde. 
 
Die Alternative "eines vielleicht Kommenden" (VPM:162) für die Musik sieht Adorno in "ihrer Emanzipation von der Sprache, die Wiederherstellung gleichsam ihres lautlichen, intentionslosen Wesens — eben dessen, was der Begriff des Namens, wie sehr auch unzulänglich, umreißen wollte". (ebd.) Eine solche Unzulänglichkeit des Begriffs des Namens habe ich vor einiger Zeit in meiner Studie Thinking of Music(6) in der Weise aufgezeigt, daß ein alternativer, paralleler Weg zur Musik durchdacht wird. Eben weil dieser Denkweg von vornherein parallel zur Sprache verläuft, muß er sich nicht erst von der Sprache emanzipieren. Das Menschenwesen ist eben nicht lediglich eine logisch-verstehende Offenheit für die Welt, die als ein Sinn sprachlich artikuliert werden kann, sondern ihm inhäriert in seiner Zwiefältigkeit auch eine stimmungshafte Rezeptivität für die Welt und schon zuvor eine stimmungshafte Resonanz mit dem, was ich in der genannten Studie die Zeitlichtung (time-clearing) nenne, die ihre eigene Schwingung bzw. Erzitterung hat. 

5.Reine Durchkonstruktion und Ausdruckskraft beim späten Schönberg

Adorno seinerseits proklamiert, "das zeitlose Wesen der Musik sei eine Schimäre" (VPM:163), wobei er — wie es völlig üblich ist — unter der Hand voraussetzt, daß 'zeitlos' mit 'bewegungslos' gleichbedeutend ist, denn die Zeit wird traditionell ausschließlich von der Bewegung abgezählt. Vielmehr: "die reale Geschichte mit all ihrer Not und all ihrem Widerspruch, konstituiert die Wahrheit der Musik". (ebd.) Die Musik entberge geschichtliche Widersprüche. Daraus schließt Adorno, "daß die philosophische Erkenntnis von Musik nicht durch die Konstruktion ihres ontologischen Ursprungs gelingen kann, sondern bloß von der Gegenwart aus", (ebd.) wobei er aber stillschweigend unterstellt, daß ein ontologischer Ursprung im Sinn eines zeitlich Früheren — eben vor der Gegenwart — zu verstehen sei. Man müsse also eine Entsprechung zwischen der musikalischen Bewegung und der außermusikalischen geschichtlichen Bewegung aufsuchen, um die Verhärtung der Musik in das objektive System einer musikalischen Sprache zu verhindern, denn sonst drohe die Gefahr, daß sie "zur automatisierten Selbstbewegung des Begriffs degeneriert" (VPM:165), wobei Adorno etwa die Etablierung einer Schule der Zwölftontechnik "seit jüngstem" (VPM:174) oder das Aufkommen "der gegenwärtigen integralen Kompositionstechnik" (VPM:167) der seriellen Musik (etwa: Boulez; VPM:174) im Blick hat. Vielmehr müsse die Musik ihre dialektische Entsprechung in der geschichtlichen Außenwelt haben. 
 

Um dies zu zeigen, bedient sich Adorno des Beispiels Schönberg, der "die wahre musikalische Kraft unserer Zeit gewesen" (VPM:164) sei, weil er nicht nur auf die musikgeschichtliche Auflösung der Tonalität mit ihrer Vollendung im bürgerlichen Zeitalter des neunzehnten Jahrhunderts mit der Zwölftontechnik antwortete, sondern in seinem Spätwerk mit dem Überlebenden aus Warschau zudem noch fähig war, eine Antwort auf die Grausamkeit der geschichtlichen Bewegung zu finden, sofern die Musik "der vollkommenen Negativität, dem Äußersten sich stellt, an dem die gesamte Verfassung der Realität offenbar wird". (VPM:166) So sieht für Adorno die enthüllende Wahrheit der Musik im Spätwerk Schönbergs aus, "eben weil in seiner Musik jenes Unsägliche zittert, das schon keiner mehr wahrhaben will", (ebd.) — damit gibt er einen unwillentlichen Hinweis auf das stimmungshafte Wesen der Musik. Auch das Zwölftonwerk "Tanz um das goldene Kalb" aus der unvollendeten Oper Moses und Aron sei von solcher "Sinnfälligkeit und Drastik", (ebd.) daß niemand "der Einfachheit der Wirkung sich entziehen" (ebd.) könne. So gewinnt für Adorno die Musik in der Bewegung der Geschichte einen Anker für ihre eigene Bewegung, womit sie auch angeblich zum Ausdruck des Inneren eines Subjekts wird, und damit die Verdinglichung eines objektiven Komponiersystems aufbricht. Er versäumt aber dabei die Chance, das Augenmerk auf die unsägliche Erzitterung der Gestimmtheit zu lenken, die die eigentliche Wahrheit dieser Musik ausmacht, indem sie diese Grundstimmung eines Zeitalters zum musikalischen Erklingen bringt. Dies aber würde ein alternatives Verständnis der Zeit einschließlich der musikalischen erfordern. Daher kann man von dem Verfehlen eines wesentlichen Phänomens in Adornos Philosophie der Musik sprechen. 
 

Neben der musikalischen Zeit bringt Adorno auch den musikalischen Raum ins Spiel mit dem Gedanken, daß der musikalische Raum "in den kollektiven Implikationen aller Musik, dem Charakter des Gruppen von Menschen Umfangenden" entspringt. Somit wird der musikalische Raum als das Umfangende eines Wir aufgefaßt und so als eine Art gesellschaftlichen Raum. Im klassischen Zeitalter wurde das umfangende "Raumbewußtsein" (VPM:167) durch die "tonale[] Harmonik" (ebd.) erzeugt, die jedoch durch die Zwölftontechnik Schönbergs zunächst aufgelöst wurde. Dessen frühe Zwölftonwerke lassen deshalb so Adorno "das Gefühl von Raumlosigkeit, von Zweidimensionalität" (ebd.) ähnlich wie "in der modernen Malerei" (ebd.) etwa beim Kubismus aufkommen. 
 

Der späte Schönberg entdeckt jedoch, daß eine umfangende musikalische Räumlichkeit auch durch die Klangfarbe generiert werden kann, d.h. "daß Instrumentation die Harmonik substituieren kann, die sonst die Tiefenwirkung hervorbrachte". (VPM:168) Damit erfährt der musikalische Raum eine auf den ersten Blick gleichwertige Behandlung wie die musikalische Zeit. Aber der Schein trügt, sofern die Erzeugung von musikalischem Raum eher die Substituierbarkeit der verschiedenen musikalischen Parameter wie "Rhythmus, Melos, Harmonik, Kontrapunkt [...] Tonhöhe, Tonqualität, Tonintensität, Zeitdauer, Klangfarbe" (VPM:171, 174) betrifft als so etwas wie die Schaffung eines real gesellschaftlichen, historischen Wir. 
 

Was aber nach wie vor auf dem Spiel steht, ist die "raison d'être von Musik in der heutigen Situation" (VPM:169) mit ihrem "immer drastischere[n] Widerspruch zwischen der vollkommenen Zweckmäßigkeit des Kunstwerkes in sich selber / und seiner ebenso vollkommenen Zwecklosigkeit im realen gesellschaftlichen Dasein". (VPM:169f) Einem Widerspruch, der nicht durch ein Wir-stiftendes, von Klangfarben generiertes, musikalisches Raumbewußtsein geheilt werden kann. Mit diesem Widerspruch, mit dieser Kluft müsse man sich konfrontieren und ihn nicht durch Anpassung und Kompromiß glätten wie etwa im Neoklassizismus. Die Neue Musik aber werde bekämpft durch "[a]ll die Argumente, die man so rasch bei der Hand hat, wenn es gilt, dem Schmerz und der Negativität auszuweichen, von der keine Wahrheit heute getrennt werden kann". (VPM:171) Dieser Schmerz und die Negativität angesichts der geschichtlichen Situation nach dem 2. Weltkrieg müssen laut Adorno vielmehr zu ihrer schmerzhaften, entbergenden Wahrheit im musikalischen Klang kommen, wie er exemplarisch am Beispiel Schönbergs vorführt. Das entbergende zum-Erklingen-bringen einer geschichtlichen Stimmung übersteigt dabei die Enthüllung eines Sinns. Vielmehr ist es etwas anderes. 
 

Andererseits jedoch stößt das "Prinzip der Durchkonstruktion des Materials bei Schönberg, des integralen Komponierens, das seine Schule anstrebt, [...] mit der Sprachlichkeit von Musik zusammen", (VPM:173) wobei die Sprachlichkeit hier auf die Seite des Ausdrucks eines Subjekts fällt, was wiederum Schönberg den irrigen Vorwurf des "allzu subjektiv" (VPM:174) einbrachte. Irrig insofern, als der sogenannte Ausdruck eines Subjekts eigentlich das Anklingen einer Stimmung der geschichtlichen Zeit selbst ist. Sowohl Adorno als auch seine Kritiker sind — wie fast jeder in seinem völlig konventionellen Eigensinn heute noch — blinde Gefangene der subjektivistischen Metaphysik und können deshalb nur zwischen den Seiten der Subjekt/Objekt-Trennung 'dialektisch' hin und her pendeln. Ein bloßes "Zelotentum der Objektivität" (ebd.) hingegen habe die "Totalität der Konstruktion" (ebd.) in der seriellen Musik hervorgebracht. Das "Absterben des musikalischen Sprachelements" (ebd.) durch die Überwindung der klassischen tonalen Harmonik solle bei Schönberg also nicht zu einem integrativen System eines Zwölftonverfahrens führen, sondern zu einem "Übergang in von aller Sprache gereinigte Musik". (ebd.) Damit komme ich auf den anfangs zitierten "Rätselcharakter von Musik" (VPM:152) zurück. Liegt er im Umkreisen um den säkularisiert theologischen, unsagbaren "Namen" oder in der 'sinnlosen' Unsagbarkeit einer — in unserer Zeit — oft schmerzhaften, wenn nicht unsäglichen Grundstimmung der Zeit selbst? 
 

Adorno schließt seine Studie über das Verhältnis der Musik zur Philosophie mit der Feststellung, daß wie in der Philosophie seit dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts allein "der kritische Weg [...] noch offen" (VPM:176) sei, um eine Wahrheit zu entfalten, so auch in der Musik: "Er besteht aber nicht in Kritik, wie sie das Bewußtsein an den ihr fremd gegenüberstehenden Werken übt, sondern Kritik wird offenbar als [...] das Formgesetz der Werke selber." (ebd.) Dieses "Formgesetz" bestehe bei Schönberg nicht in der Reihentechnik des Zwölftonverfahrens als solcher, sondern erfordert "die unendlich reiche, komplexe und artikulierte Struktur des Komponierens, deren Realisierung einzig das Maß der Reihentechnik abgibt". (ebd.) Nur so biete eine Anwendung des Zwölftonverfahrens, das "nicht den Leuten nach den Ohren" (ebd.) schreibt, die Enthüllung einer kritischen Wahrheit. 
 

Aber wie entkräftet ein solch kritisches Formgesetz des Zwölftonverfahrens den "Vorwurf gegen die Neue Musik in ihrer avancierten Gestalt, sie sei beziehungslos zu den Menschen und zur Realität"? (VPM:172) Adornos Anwort: "Nur im Gedächtnis an das, was man nicht wahr haben möchte, kommt es zur Beziehung auf die Realität dieses gleichsam auf Widerruf gewährten Lebens." (ebd.) Das kritische Moment liege also in der Entbergung dessen, "was man nicht wahr haben möchte", das für Adorno emphatisch gesellschaftlicher Natur ist. Und wie kommt es zu dieser Beziehung? Hier wird es paradox, denn einerseits führt das "Prinzip der Durchkonstruktion des Materials bei Schönberg" (VPM:173) dazu, daß "Je reiner ihre [der Musik] Charaktere sich bloß noch durch ihre Zusammenhänge, ihr aufeinander Bezogensein rechtfertigen, um so weniger kommt ihr der Charakter des Sagens mehr zu". (ebd.) Andererseits aber zeigt "der letzte Schönberg [durch die beiden von Adorno obengenannten Sprachwerke, daß er] sich nicht bei der Liquidation der sprachlichen Momente der Musik [...] beschied, sondern doch wieder Musik zur Sprache bereiten wollte". (ebd.) Heißt dies aber nicht, daß die Beziehung der Musik zur außermusikalischen Realität der Menschen laut Adorno doch erst durch Sprache geleistet wird? Wobei  die von Adorno außer Acht gelassene Gestimmtheit als Bindeglied zwischen Musik und Welt dann ausscheidet. 
 

Mir scheint, daß es Adorno nicht gelingt, den Widerspruch in seiner Doppelbestimmung des Wesens der Musik als sprachähnlich sowie als sprachunähnlich, d.h. als Sprache sowie als Nichtsprache, aufzulösen. Und zwar nicht nur deshalb, weil er bereitwilliger Gefangener der Subjekt/Objekt-Metaphysik bleibt, sondern weil er ebenso das Phänomen der Gestimmtheit von der ursprünglichen Zeit her verfehlt. 

6.Musikkritik nur als Gesellschaftskritik?

Wie steht es mit der Wahrheit als Wesen der Musik schlechthin, d.h. auch wenn sie keine kritische, sondern eher eine verstellende oder zudeckende Wahrheit ist? Hier lohnt sich ein Blick auf eine frühere Studie Adornos aus dem Jahr 1932 'Zur gesellschaftlichen Lage der Musik'(7)  sowie auf seine 'Schlageranalysen'(8) aus dem Jahr 1929. 
 
In diesem kurzen Aufsatz werden einerseits drei Schlager aus den Jahren 1915, 1925 und 1928 analysiert und nicht so sehr wegen der Banalität der musikalischen Form kritisiert, als vielmehr wegen der Banalität der Texte, die das gestimmte Lebensgefühl der Menschen in den jeweiligen Jahren vor dem Hintergrund des noch nicht abgerissenen Fadens zur Vorkriegswelt, der allmählichen Erholung von der Inflation bzw. eines gewissermaßen stabilisierten Europas widerspiegeln. Völlig unkritisch und kitschig wie generell die leichte Gebrauchsmusik zu allen Zeiten affirmativ-versöhnend-tröstend ist. Trotzdem bringt solche Musik gerade dadurch die Stimmung einer Zeit, und sei sie eine banale, zum Erklingen, was Adorno nicht ausdrücklich zur Kenntnis nimmt. Die Stimmung dieser banalen Schlager paßt genau zur Sprache der Songs, die ihren begleitenden Sinn klar zum Ausdruck bringt. Für eine solche kritische Analyse aber braucht es weder die Folie einer avancierten Kompositionstechnik noch eine kritische dialektisch-materialistische Theorie der kapitalistischen Gesellschaft, sondern lediglich eine kritische Haltung gegenüber dem das Bestehende affirmierenden Kitsch, mit dem sich die meisten zufriedengeben, auch wenn sie sich als kritisch Denkende verstehen. 
 
Bei jener längeren Studie geht es andererseits nicht um das Verhältnis von Philosophie zur Musik, sondern um das Verhältnis der kritischen Gesellschaftstheorie zur Musik, was naheliegt, da für Adorno Philosophie mehr oder weniger mit kritischer Gesellschaftstheorie identisch ist. Diese Identität erscheint bereits in der Verwendung des Begriffs des "Formgesetzes" (s.o.) in dem früheren Aufsatz: 
Ihr [der Musik] frommt es nicht, in ratlosem Entsetzen auf die Gesellschaft hinzustarren: sie erfüllt ihre gesellschaftliche Funktion genauer, wenn sie in ihrem eigenen Material und nach ihren eigenen Formgesetzen die gesellschaftlichen Probleme zur Darstellung bringt, welche sie bis in die innersten Zellen ihrer Technik in sich enthält. Die Aufgabe der Musik als Kunst tritt damit in gewisse Analogie zu der der gesellschaftlichen Theorie. (GLM:731; meine Kursivierungen) 
Mit anderen Worten: der Musik bleibe allein "der kritische Weg [...] noch offen" (VPM:176), und zwar durch ihre eigenen innermusikalischen "Formgesetze". Wie in dem späteren Aufsatz von 1953 geht es um "Musik, die heute ihr Lebensrecht bewähren will", (GLM:732) was ihr nur gelingen kann, wenn sie in "ihrem Material [...] die Probleme rein ausform[t], die das Material — selber [...] gesellschaftlich-geschichtlich produziert — ihr stellt; die Lösungen, die sie dabei findet, stehen Theorien gleich". (ebd.) Von daher müsse sie — wie die kritische Gesellschaftstheorie auch — dann den schwierigen Weg über die Praxis in die gesellschaftliche Wirklichkeit finden, um eine "Veränderung der Gesellschaft" (GLM: 731) vermittels einer nicht bloß "geistesgeschichtlichen", sondern vermittels ihrer "historisch-materialistischen" (ebd.) Methode hervorzubringen. Kritische Gesellschaftstheorie und kritische Musik haben beide als "deren objektive Intention die Überwindung der Klassenherrschaft [...], dessen Abschaffung in der Gesellschaft das unverrückbare Ziel des proletarischen Klassenkampfes ist ". (GLM: 732, 751) Daß diese Musik "unverständlich" (GLM: 731) sei, liege daran, daß "das empirische Bewußtsein der gegenwärtigen Gesellschaft [...] bis zur neurotischen Dummheit von der Klassenherrschaft zu deren Erhaltung gefördert wird, [... kann aber nicht] als positives Maß einer nicht mehr entfremdeten, sondern dem freien Menschen zugehörigen Musik gelten. Wie die Theorie über dies gegenwärtige Bewußtsein der Massen hinausgreift, muß auch die Musik darüber hinausgreifen". (ebd.) Eine kritische Musik solle aber nicht so tun, als könnte sie eine (bloß scheinbare) Unmittelbarkeit herstellen, die den totalen verdinglichten Warencharakter der Musik und die damit einhergehende Trennung von ihrer Produktion und Konsumtion in der durch die Wertverdinglichung entfremdeten Gesellschaft überwinden würde. 
 
Vielmehr erfülle "die fortgeschrittenste kompositorische Produktion der Gegenwart [...] ihre dialektische Erkenntnisfunktion am genauesten" (GLM:733), indem sie den "ungemein heftige[n] Widerstand" (ebd.) erfährt, der darauf hindeutet, "daß die dialektische Funktion dieser Musik in der Praxis, ob auch bloß negativ, als 'Destruktion', bereits fühlbar wird". (ebd.) Hiermit wird Adornos Verständnis der historisch-materialistischen Dialektik als ein Spiel und ein Kampf zwischen Kräften in der historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit deutlich. Insofern liegt der Gedanke einer durchgehenden "Negativen Dialektik" gegen das Bestehende nah — auch in der Nachkriegszeit, wo er nicht mehr von einer Überwindung der Klassengesellschaft spricht. 
 
Solch kritische Musik dürfe nicht mit der sogenannten ernsten Musik verwechselt werden, denn deren Kultivierung stelle zum größten Teil eine bloß nostalgische Reminiszenz an historisch überholte Musik dar, oder, wie ich es sagen würde: Sie ist nichts anderes als das unter dem faden Schein des Zeitlosen Noch-mal-zum-Erklingen-bringen der Stimmungen gewesener Zeiten, die als Wiederholung aus der zeitlichen Ferne tröstende Zuflucht von einer als allzu hart und verworren empfundenen Wirklichkeit der Gegenwart bietet. Deshalb auch Adornos heftiger Widerstand gegen den Neoklassizismus in der Musik seiner Zeit. 
 
Leistet nur die avancierteste Musik Widerstand gegen die bestehende Klassengesellschaft? Leistet nur eine kritische Musik solchen Widerstand, die sich der Warenform versagt? Wie steht es mit einer Protestmusik in herkömmlicher musikalischer Form, die ihren Widerstand gegen das Bestehende gerade in dieser eingängigen musikalischen Form, aber mit wohldurchdachten kritischen Texten zum Ausdruck bringt? Zählt nur Widerstand gegen die bestehende Gesellschaftsform und nicht etwa der Widerstand gegen eine Geisteshaltung, eine — verstellend ideologische — geschichtliche Denkweise, auf der eine solche Gesellschaftsform beruht? Denn — gegen Marxens elfte Feuerbachthese —man kann eine Gesellschaft nur verändern, wenn der Geist etwas zu dieser Veränderung im Sinn hat. 
 
Gibt es eine wünschenswerte Form der Gesellschaftung, die geschichtlich die Vergesellschaftung durch das Medium des verdinglichten Werts überwinden könnte, ohne die Welt in erneute geschichtliche Desaster zu stürzen? Denn jedes Vergesellschaftungsmedium ist auch notwendigerweise ein Machtmedium, sei es des verdinglichten Werts, sei es der Politik oder welcher Art der gesellschaftlichen Macht auch immer. Oder gibt es geschichtliche Möglichkeiten eines menschenfreundlicheren statt eines entfremdeten Umgangs mit dem verdinglichten Wert selbst als Vergesellschaftungsmedium? Geschichtliche Möglichkeiten, die auf eine Überwindung des blinden Wertfetischismus zugunsten einer aufgeklärten Transparenz des verdinglichten Werts setzen, ohne den verdinglichten Wert als Vergesellschaftungsmedium, das auch ein Medium der individuellen Freiheit ist, abschaffen zu müssen? Welchen Beitrag könnte eine kritische Musik, die nicht unbedingt die avancierteste Kompositionstechnik voraussetzt, zu einem solchen geschichtlichen Kampf leisten? Und stellt Schönbergs Kompositionstechnik die ultimative Kompositionstechnik dar? 
 
Gibt es eine wünschenswerte Form der Gesellschaftung, die geschichtlich die Vergesellschaftung durch das Medium des verdinglichten Werts überwinden könnte, ohne die Welt in erneute geschichtliche Desaster zu stürzen? Denn jedes Vergesellschaftungsmedium ist auch notwendigerweise ein Machtmedium, sei es des verdinglichten Werts, sei es der Politik oder welcher Art der gesellschaftlichen Macht auch immer. Oder gibt es geschichtliche Möglichkeiten eines menschenfreundlicheren statt eines entfremdeten Umgangs mit dem verdinglichten Wert selbst als Vergesellschaftungsmedium? Geschichtliche Möglichkeiten, die auf eine Überwindung des blinden Wertfetischismus zugunsten einer aufgeklärten Transparenz des verdinglichten Werts setzen, ohne den verdinglichten Wert als Vergesellschaftungsmedium, das auch ein Medium der individuellen Freiheit ist, abschaffen zu müssen? Welchen Beitrag könnte eine kritische Musik, die nicht unbedingt die avancierteste Kompositionstechnik voraussetzt, zu einem solchen geschichtlichen Kampf leisten? Und stellt Schönbergs Kompositionstechnik die ultimative Kompositionstechnik dar? 
 
Überhaupt schätzt Adorno die Musik grundsätzlich nach ihrem Potential ein, die kapitalistische Gesellschaft zu verändern, ihre Bewußtseinsformen durch Enthüllung des wahren entfremdeten Zustands der kapitalistischen Gesellschaft zu sprengen, die durch den verdinglichen Wert mit seinen Waren , Geld , Lohn- und Kapitalformen vermittelt ist. Dies kommt daher, daß seine Philosophie eine kritische, dialektisch-materialistische Gesellschaftstheorie ist. Dialektisch-materialistisch nach Adornos Verständnis, weil sie die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Kräften und Mächten real fordert, um sie in einen anderen, nicht mehr entfremdeten Zustand der Gesellschaft aufzuheben. Voraussetzung dafür ist die Entlarvung der Ideologien der kapitalistischen Gesellschaft. Aber erschöpft dies die Möglichkeiten von Kritik? Gibt es ein kritisches Denken mit einem anderen Fokus, das den kritikwürdigen Zustand der Welt anders diagnostiziert, indem es etablierte Denkweisen, d.h. heutige Ideologien, die sich nicht auf die kapitalistische bzw. bürgerliche Gesellschaftsform als solche beziehen, destruiert?(9)  
 
Adorno schenkt dem U.S.-amerikanischen Schüler Schönbergs John Cage keine Aufmerksamkeit, was um so erstaunlicher ist, als Cage einen gewaltigen Schritt über Schönberg hinaus tat. Einen Schritt, der auch die radikalen gesellschaftlichen und denkerischen Implikationen einer neuen Kompositionstechnikvorführt. In meiner Studie zu Heidegger und Cage(10)  habe ich den Versuch unternommen zu zeigen, daß Cages von Buddhismus inspirierte aleatorische Kompositionsmethode keineswegs an Durchdachtheit, Vielseitigkeit, Subtilität und Herausforderungen gegenüber der Zwölftontechnik einbüßt. Zudem öffnet sie einen künstlerischen Weg, um gerade die heute vorherrschende, westliche Denkweise — nämlich die der Subjekt-Objekt Metaphysik — in Frage zu stellen. Diese Denkweise ist angesichts des allgegenwärtigen — in der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Politik, der Lebensführung im allgemeinen — Willens zur Macht über jedwede Art von Bewegung bzw. Veränderung mehr denn je fragwürdig geworden. Die von Cage propagierte Empfänglichkeit für Klänge aller Art — selbst in ihrem zufälligen, unregelmäßigen Erklingen, sogar als Lärm — stellt einen Schritt zurück vom menschlichen Subjekt dar, das allen Weltbewegungen zugrunde liegen soll. 
 
Bei Cage wird die Freiheit als ein Loslassen von der Herrschaft über die Bewegung verstanden und auch kompositorisch sowie interpretatorisch praktiziert, etwa wenn die Rolle des kommandierenden Dirigenten auf die Rolle einer bloßen Uhranzeige reduziert wird. Für Adorno hingegen ist das menschliche Subjekt unverzichtbar als der Ort der Freiheit, der noch gestärkt werden muß, um die fetischisierten, verdinglichten Bewegungen der Wertdinge unter die Herrschaft eines gesamtgesellschaftlichen Subjekts zu bringen. Cages klar artikulierte Interventionen in die Künste überhaupt hat zur Befreiung unterschiedlichster Art in den verschiedenen Kunstbereichen dadurch geführt, daß auf den Herrschaftsanspruch über die Bewegung verzichtet wird. Dies entspricht auch der Phänomenalität der Welt selbst, in der die meisten Bewegungen trotz der avanciertesten Wissenschaft und Technik nicht unter Kontrolle zu bringen sind. Eine solche Einsicht öffnet einen Weg, einen Schritt zurück zu nehmen – zurück vom Willen zur Macht über die Bewegung zugunsten eines Zulassens von wechselseitigen Spielarten wertschätzender Bewegung. 
 
Gibt es auch Widerstandsformen der Musik, die nicht mit den avanciertesten Techniken, sondern in einfachen, von unten kommenden tonalen Formen — wie etwa Rock, Blues, Punk oder Rap — komponiert sind, die kritische Sprengkraft in sich bergen? Vor allem durch das, was sie sagen, in Verbindung mit den klanglichen Mitteln, die sie einsetzen? Die Texte von alltäglicher Gebrauchsmusik müssen keineswegs banal sein, sondern können aus einem tieferen, kritischen Denken schöpfen. Diese Vorgehensweise wäre analog zu Adornos Vorschlag: "Denkbar wäre [...], daß man etwa in Umlauf befindlichen Melodien der bürgerlichen Vulgärmusik neue Texte unterlegte, um sie auf diese Art dialektisch 'umzufunktionieren'", (GLM:752) ein Vorschlag, den er mit Blick auf den "bislang konsequentesten proletarischen Komponisten, Eisler" (ebd.) macht, der auch aus der Schönbergschule hervorging. 
 
In Absetzung von den traditionell kultivierten Formen der klassischen Musik gibt es nicht nur radikal neue Kompositionsverfahren wie die Zwölftontechnik oder die Cagesche Aleatorik, sondern auch alternative Klangfarben und auch Rhythmen — besonders afrikanischen Ursprungs —, die im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts entdeckt und entwickelt worden sind. Der schon längst fortgeschrittene Abbau der stickig-konservativ bürgerlichen Unterscheidung zwischen sogenannter ernster Musik und Unterhaltungsmusik hat auch neue Hörräume geöffnet. Alternative Klangfarben sind vor allem durch elektrische und elektronische Musiken erzeugt worden, die andere, heutige Stimmungen auf 'natürliche' Weise zur Resonanz bringen, weil das Elektrische und Elektronische so markant zur heutigen Welt gehören und so die Stimmung eines heutigen Lebensgefühls ausstrahlen. Solche elektrisch generierten Stimmungen — die keineswegs bloß affirmativ, beruhigend, beschwichtigend zu sein brauchen, sondern verstörend, aufregend, belebend, aggressiv, aufwühlend, aufmüpfig, ermutigend sein können — in Verbindung mit geeigneten, aussagestarken Texten — enthalten sehr wohl kritisches Potential. Dies ist bisher noch gar nicht verwirklicht worden. Denn den Songschreibern und Librettisten sowie den Literaten und Künstlern überhaupt ist die Verbindung zu einer kritischen Philosophie mit ihren radikalen Diagnosen der Zeit, die tiefer als die politischen Diagnosen einer kritischen Gesellschaftstheorie liegen, längst abhanden gekommen. 
   

    Anmerkungen
    1. Herzlichen Dank an Astrid Nettling für wertvolle kritische Bemerkungen. Zurück zu 1.

    2.  
    3. Die vorliegende Studie ist eine Art ergänzender Anhang zu meinem Buch Thinking of Music: An approach along a parallel path CreateSpace, North Charleston 2015 130 pp. und setzt eine Kenntnis des Gedankengangs in den ersten Teilen desselben voraus. Sie vertieft das kurze Adorno-Kapitel dort. Zurück zu 2.

    4.  
    5. Th. W. Adorno 'Über das gegenwärtige Verhältnis von Philosophie und Musik' erstveröffentlicht in Archivio di Filosofia Nr. 1 Filsofia dell' Arte Roma 1953,  abgedruckt in Gesammelte Schriften Bd. 18 Suhrkamp, Frankfurt/M. 1997/1984 S. 149-176. Hier in der Form VPM:149 zitiert. Zurück zu 3

    6.  
    7. Vgl. Thinking of Music a.a.O. sowie im Folgenden. Zurück zu 4

    8.  
    9. Vgl. Thinking of Music a.a.O. Zurück zu 5

    10.  
    11. Thinking of Music a.a.O. Zurück zu 6

    12.  
    13. Th. W. Adorno 'Zur gesellschaftlichen Lage der Musik' in Zeitschrift für Sozialforschung (1) 1932 abgedruckt in Gesammelte Schriften Band 18 S. 729-777. Hier in der Form GLM:729 zitiert.  Zurück zu 7

    14.  
    15. Th. W. Adorno 'Schlageranalysen' in Anbruch 11 1929 abgedruckt in Gesammelte Schriften Band 18 S. 778-787. Hier in der Form SGA:778 zitiert. Zurück zu 8.

    16.  
    17. Vgl. M. Eldred Social Ontology: Recasting Political Philosophy Through a Phenomenology of Whoness ontos/DeGruyter Frankfurt/Berlin 2008/2011, The Digital Cast of Being; Metaphysics, Mathematics, Cartesianism, Cybernetics, Capitalism, Communication ontos/DeGruyter Frankfurt/Berlin 2009/2011 und A Question of Time: An alternative cast of mind CreateSpace, North Charleston 1915. Von arte-fact.org erhältlich. Zurück zu 9.

    18.  
    19. M. Eldred Heidegger, Hölderlin e John Cage Semar Publishers, Rom 2000. Auch auf Deutsch und Englisch bei arte-fact.org erhältlich. Zurück zu 10

    20.  
    21. . Zurück zu 11

    22.  
    23. . Zurück zu 12

    24.  
    25. . Zurück zu 13

    26.  

       


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