Ein Leben lang leben lernen
2000 Jahre Seneca und
die Philosophie der Stoa


4. Seneca und die ars vitae


Astrid Nettling


artefact text and translation
Cologne, Germany



Version 1.0 Mai 1996
e-mail: artefact@t-online.de

Inhaltsverzeichnis


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    4. Seneca und die ars vitae

    Sprecherin (1)

  1. Also ins Wasser geschrieben die Unzahl von weisen Büchern? Nun, für Seneca war dies unabdingbar, jenes Hören auf das schon Gesagte, das Sich-etwas-gesagt-sein-lassen von den Denkern und Weisen, die vor ihm gelebt hatten. In "De brevitate vitae" heißt es:

    Sprecher (2) (Zitat Seneca)

  2. Sich unterhalten kann man mit Sokrates, zweifeln mit Karneades, mit Epikur zurückgezogen leben, des Menschen Wesen mit den Stoikern überwinden, mit den Kynikern hinter sich lassen. Da die Natur in Umgang mit jedem Zeitalter einzutreten gestattet, warum sollen wir nicht von diesem knappen und hinfälligen Vergehen der Zeit an das uns mit ganzer Seele hingeben, was unermeßlich, was ewig ist, was mit dem Besseren verbunden? ... Jeder von diesen wird Zeit haben, jeder wird den zu ihm Kommenden glücklicher, als besseren Freund seiner selbst entlassen, niemand wird irgendeinen mit leeren Händen von sich weggehen lassen; bei Nacht können sie, bei Tag von allen Menschen besucht werden.

    O-Ton Gregor Maurach

  3. Die Frage ist, was hätte Seneca uns zu sagen. Aber die Fage ist schwierig, man muß sich die weitere Frage vorlegen, welcher Seneca eigentlich? Der Verwalter eines Weltreiches, was hat der uns zu sagen? Seneca als Großpolitiker, ein vorbildlicher Mann. Oder ist vielleicht mit Seneca gemeint ein vielerfahrener Mann, der glänzende Erfolge als Rechtsanwalt, als Gerichtsredner hatte, der mit einer schwersten Krankheit fertig geworden war, der mit einer Verbannung fertig geworden war, ein Mann, der wirklich das Leben kannte in und auswendig, die Höhen und Tiefen und niemals gejammert hat, niemals sich beschwert hat. Oder der Literat, wir haben noch nicht davon gesprochen, daß wir es zu tun haben bei Seneca mit einem der ganz, ganz großen Meister des Lateins. Daran kann man lateinischen Stil lernen, man kann lernen, wie man auf kürzestem Raum sehr vieles sagen kann. Eine Tugend, die uns heute gut anstehen würde. Oder sollen wir sprechen von dem Ratgeber Seneca, der aus einer großen Welterfahrung und herkommend aus der Kenntnis von tiefen Grundsätzen, sehr vernünftige Ratschläge gegeben hat, etwa über das Schenken, wie man taktvoll schenkt, oder ob man eine politische Karriere vorantreiben sollte, die einen hinaustreibt, zugleich von sich selbst fort usw. Oder meint man den Seneca, den Naturliebhaber, der sieben große Bücher geschrieben hat über die Natur mit herrlichen Beschreibungen? Oder meint man den Seneca, der sehr unpopulär ist heute, denn er gehört zu den, wie Nietzsche sagt, noblen Charakteren, die noch Ehrfurcht empfanden. Er reiste gerne zu den Häusern der Großen der Vorzeit. Es waren immer winzige Buden, kleine bescheidene Löcher, wo die Großen gewohnt haben, und daran knüpfte er seine Gedanken. Will man etwas lernen von Seneca, dem Ehrfürchtigen? Ich denke, es gibt viele Senecas, und es gibt viele Seiten an ihm und an seinem Leben. Man muß sich auf ihn einlassen.

    Sprecherin (1)

  4. Sich einlassen auf das, was Seneca als den Korpus seiner philosophischen Werke hinterlassen hat. Über die Vorsehung, Über die Standhaftigkeit des Weisen, Über den Zorn, Trostschrift an Marcia, Über das glückliche Leben, Über die Muße, Über die Kürze des Lebens, Über die Seelenruhe, Trostschrift an die Mutter Helvia, Trostschrift an Polybius, Über die Wohltaten, Über die Milde - so lauten die von Seneca überlieferten kürzeren Traktate, sowie das umfangreiche "An Lucilius. Briefe über Ethik". Neun Tragödien kommen hinzu und die sieben Bücher seiner "Naturwissenschaftlichen Untersuchungen".

    O-Ton Gregor Maurach

  5. Er beherrschte viele literarische Formen. Angefangen von der Satire bis hin zu weitgespannten riesigen Werken und am Ende dann der Brief. Aber gehen wir chronologisch vor. Dann sehen wir, daß seine philosophischen Arbeiten beginnen mit kleinen Traktaten, deren Form ist so, daß sie mit einem von jedem gefühlten Unbehagen beginnen. Irgend jemand trug ihm einen Gedanken vor, eine Klage, darüber daß er mit dem politischen, mit dem rechtlichen Leben nicht mehr mitkomme und sich zurückziehen wolle und es aber doch wohl nicht könne und wie solle er sich bloß zurückziehen usw usw, solche aus dem Tagesbetrieb kommenden Fragen, denen ging er dann in der Weise nach, daß er dem, der ihm diese Frage gestellt hatte oder nicht gestellt hatte, das kann auch eine Fiktion gewesen sein, eine Antwort gab, eine schriftliche Antwort. Und daher nennt man dann diese Schriften Dialoge, die eigentlich nur aus einer Frage, einer Antwort bestehen. Zweitens, als er dann begann, seine Gedanken in Briefform zu kleiden, dann bedeutete das für ihn wohl, daß er damit wohl noch näher an den Adressaten herankommen könne. Nach alter Auffassung, die wir ja ohne weiteres teilen können, ist der Brief ja ein Gespräch, ist ein schriftliches Gespräch in Papier und Tinte, aber eben ein Gespräch, und das Gespräch ist die Form der Belehrung und des Ratgebens, die am nächsten an den, mit dem man sprechen will, heranführt.

    Sprecherin (1)

  6. "Ad Lucilium epistolae morales" lauten jene berühmten 124 Briefe an den Freund Lucilius, die Seneca in den drei Jahren vor seinem Tode verfaßte. Briefe, die nie abgeschickt wurden und in denen Seneca aufbauend von Brief zu Brief in 20 Büchern sein umfassendes, großes philosophisches Werk über die Lebenskunst, über das Sichverstehen auf das Leben niedergeschrieben hat.

    O-Ton Gregor Maurach

  7. Ich denke man sollte ein Wort sagen über die Zugangsmöglichkeit zu Seneca und da wäre etwas Wichtiges dieses, daß Seneca im Unterschied zu so gut wie allen Philosophen, die ich kenne, ohne Vorbedingung schreibt und spricht. Es ist eine Unmittelbarkeit festzustellen in der Weise, daß er keinerlei Bildung schon gar nicht philosophische Bildung voraussetzt. Ich denke, das verbindet ihn mit Epikur, soweit wir überhaupt urteilen können. Man muß nichts wissen, man muß nicht etwa denken, daß man jetzt in das Haus eines Philosophen tritt und dann eine Unmenge philosophischer Kenntnisse besitzen muß, nein, wenn man mühselig und beladen ist und ein Problem hat, wie man heute so flach sagt, wenn man ein Unbehagen empfindet, kann man ihn einfach aufschlagen, und er wird so sprechen, als spräche ein Freund, der ganz unmittelbar und ohne Voraussetzungen sich mir zuwendet. Das ist ein ganz wesentlicher Zug, der ihn von Cicero, der ihn von seinem Vorgänger, was die Briefe anbetrifft, von Horaz und anderen unterscheidet. Die Unmittelbarkeit des Aufschlagenkönnens und die Unmittelbarkeit, mit der er einen sofort in Fesseln schlägt.

    Sprecher (2)

  8. Keine rigide Strenge, wie der frühe Stoizismus sie kannte, keine Orthodoxie der Lehre, die nur zu verbissenen philosophischen Schulstreitereien führt, sondern Lebensweiheit, die sich undogmatisch direkt vermittelt. "Man kann vernünftig sein ohne Getue, ohne Haß", schreibt Seneca an Lucilius.

    Sprecherin (1)

  9. Eine Einfachheit, die aber zugleich das Schwerste ist. Wenn auch kein Wissen, keine Kenntnisse so verlangt sie doch vom Leser die Bereitschaft, in jene Schule der Philosophie zu gehen, über die das "gnóthi séauton" geschrieben stand. Bereitschaft und Mut zu dem Abstand, den es braucht, um richtig zu sehen, Bereitschaft und Mut, um mit dem Auge des Geistes zu sehen. Denn auch Seneca fordert - wie noch alle Philosophie - zu dieser reflexiven Haltung auf sowohl gegenüber sich selbst wie gegenüber der Welt. "Sapere aude!" - "Wage klug zu sein!", wie es von Vergil geprägt noch von Kant als Wahlspruch der Aufklärung übernommen wird. Etwas Einfaches wie Schwerstes zugleich. Einfach, weil es dazu nichts bedarf - keines Vielwissens, keiner Macht, keiner Güter - schwer, weil ein jeder sich für sich allein darum bemühen muß. Seneca an Lucilius:

    Sprecher (2) (Zitat Seneca)

  10. Wer kann bezweifeln, mein Lucilius: Der unsterblichen Götter Geschenk ist es, daß wir leben, der Philosophie, daß wir sittlich leben? ... Ihre Kenntnis haben sie niemandem gegeben, die Fähigkeit zu Philosophie allein. Denn wenn sie die Philosophie auch zu einem Gemeingut gemacht hätten und wir voll Einsicht geboren würden, hätte die Weisheit, was sie als größten Vorzug besitzt, verloren, nicht zu den Gaben des Zufalls zu gehören. Nun nämlich ist das an ihr wertvoll und großartig, daß sie uns nicht einfach zufällt, daß sie ein jeder sich selbst verdankt.

    Sprecherin (1)

  11. So sind Senecas Schriften eine Schulung darin, Abstand zu nehmen - im Großen wie auch im Kleinen. Lektionen, sich von dem zu lösen, was die Welt an Hohem und Banalem bietet, an das die Menschen sich hängen und von dem sie sich abhängig machen. Die Masken und Rollen, in die sie schlüpfen und in der Welt wie auf einer Bühne agieren. "Den Menschen muß man die Maske abnehmen", verlangt Seneca. Und es gibt viele Masken: Die Unmäßigen, die nur dem Genuß hingegeben sind, die Eitlen, "die die Sorge, den Körper in der Sonne kochen zu lassen, verzehrt hat", oder die, die ihre Zeit mit anderem sinnlosen Tun vergeuden.

    Sprecher (2) (Zitat Seneca)

  12. Was? Jene nennst du der Muße hingegeben, denen beim Frisör viele Stunden verstreichen, während ihnen ausgezupft wird, was in der vergangenen Nacht nachgewachsen ist, während man wegen jedes einzelnen Haares in Beratung tritt, während verlegenes Haar an seine Stelle zurückgebracht und fehlendes von hier und dort in die Stirn zurückgekämmt wird?

    Sprecherin (1)

  13. Die Vielbeschäftigten, "die durch ihre Verpflichtungen eilen, die sich und andere um die Ruhe bringen", die Vielwissenden,

    Sprecher (2) (Zitat Seneca)

  14. Die von der Beschäftigung mit unnützer Wissenschaft festgehalten werden ... Das ist eine Krankheit der Griechen gewesen, zu fragen, welche Zahl von Ruderern Odysseus gehabt habe, oder ob zuerst die Ilias geschrieben worden sei oder die Odyssee, außerdem ob sie von demselben Verfasser stamme, anderes ferner dieser Art.

    Sprecherin (1)

  15. Den Kunstsinnigen, der "seine korinthischen Gefäße, durch den Wahnwitz weniger Menschen kostbar, in ängstlicher Genauigkeit pflegt und den größeren Teil des Tages bei verrosteten Metallplättchen verbringt", oder den Ehrgeizigen, der in Sorge beschäftigt mit seinem Ruhm, nach ehrenvollen Ämtern und Denkmälern strebt.

    Sprecher (2)

  16. Sie alle und viele mehr zählt Seneca in "De brevitate vitae" auf. Mit psychologischem Feinsinn weiß Seneca die Verführungen aufzuspüren, für welche die Seele in ihrem Genuß- und Illusionsbedürfnissen anfällig ist. Demaskierungen, Desillusionierungen, die er gleichsam als Therapeut vornimmt, als derjenige also, der für die Seele sorgt. Im Gegensatz jedoch zum Therapieverständnis der heutigen Zeit, wo man sich bemüht, Abweichungen auf das Normale hin zu korrigieren, lehrt Seneca, sich vom gesellschaftlichen common sense zu entfernen. Gregor Maurach:

    O-Ton Gregor Maurach

  17. Wenn er Ratschläge gibt für einzelne Fragen des Lebens oder für große Entscheidungen, die anstehen, dann geht es ihm niemals um das Wiedereingliedern in irgendeine Gruppe oder Gemeinschaft, es geht ihm vielmehr immer und grundsätzlich darum, diesen Menschen herauszulösen aus dem, was die große Masse für normal hält. Ihn zurückzuführen auf das, was Seneca, was die Philosophie für wesentlich erachtet, nämlich aus einem Wertekanon zu leben, der auf Kritik der Werte gegründet ist. Dieser Wert nun, der sich auf nichts als das gründet, was die Vernunft einem an die Hand gibt, das sind ganz wenige Dinge, das sind ganz bescheidene und maßvolle Dinge, die sich nicht vertragen mit dem sich Hineinstürzen in den Trubel einer für normal gehaltenen Gesellschaft, die man auch betrachten könnte als eine völlig wahnsinnige, aus den Fugen geratene Gesellschaft. Nein, heraus mit dir aus diesem Trubel, ist sein ständiger Rat und kehre zurück zu dir selbst, nimm dich selbst in die Hand, reduziere deine Bestrebungen auf das, was die Vernunft dir rät, was das Leben als ein Leben, das auf die Vergängnis zusteuert dir rät, dann lebst du richtig und nicht, wenn du kopflos dich verlierst an die Scheinnormalität einer verrückt werdenden Welt.

    Sprecher (2) (Zitat Seneca)

  18. So handle, mein Lucilius: nimm dich für dich selbst in Anspruch, und die Zeit, die dir bis jetzt entweder weggenommen oder entwendet wurde oder einfach verlorenging, halte zusammen und behüte. Sei überzeugt, es ist so, wie ich schreibe: manche Zeit wird uns entrissen, manche gestohlen, manche verrinnt einfach. Am schimpflichsten dennoch ist ein Verlust, der durch Lässigkeit entsteht. Und, wenn du darauf achten wolltest: der größte Teil des Lebens entgleitet unvermerkt, während man Schlechtes tut, ein großer Teil, während man nichts tut, das ganze Leben, während man Belangloses tut.

    Sprecherin (1)

  19. Heißt es in seinen ersten Brief an Lucilius. Sich für sich selbst in Anspruch nehmen - für Seneca bedeutet dies jedoch keineswegs, sich völlig aus der Welt zurückzuziehen, als vielmehr inmitten der Welt von der Welt unabhängig sein. Der urbane Römer Seneca will nicht kompromißlos radikal das Band zur Welt durchtrennen, sie aber so für sich entmächtigen, daß er gleichsam unberührt von ihrem Getöse durch sie hindurchschreiten kann. Wenn auch die Wirklichkeit so ist, wie sie ist, ist doch ihre Realitätsmächtigkeit niemals so mächtig, daß man sie nicht entmystifizieren, ihr nicht die Maske abnehmen könnte.

    Sprecher (2) (Zitat Seneca)

  20. Daran aber denke vor allem, zu nehmen den Dingen das Getöse und zu sehen, was in einem jeden Fall vorliegt: Wissen wirst du, nichts an den Dingen ist Fürchtenswert außer der Furcht selbst. Was du Knaben geschehen siehst, das geschieht auch uns, etwas größeren Knaben: die sie lieben, an die sie sich gewöhnt haben, mit denen sie spielen - wenn sie sie maskiert sehen, fürchten sie sich vor ihnen: nicht den Menschen nur, sondern den Dingen muß man die Maske abnehmen und ihr eigenes Gesicht zurückgeben.

    Sprecherin (1)

  21. Doch dazu bedarf es der Übung. Der askesis, wie es griechisch, der exercitatio, wie es lateinisch heißt. Wilhelm Schmid:

    O-Ton Wilhelm Schmid

  22. Askese wird heute eigentlich nur in einem Sinne verstanden, nämlich Enthaltsamkeit zu üben. Aber in der Tat ist das der Begriff von Askese, der uns überliefert worden ist vom Christentum, der mit dem Ursprungsbegriff der Askese nur zum Teil zu tun hat. Askese heißt ursprünglich "sich üben in etwas", und eine dieser Übungen konnte dann die Übung der Enthaltsamkeit sein. Es käme also darauf an, diesen ganzen Begriff der Übung wiederzugewinnen, den vollen Begriff der Askese und das dann tatsächlich mit Lebenskunst in Verbindung zu bringen. Denn natürlich, das hat mit Lebenskunst sehr viel zu tun. Lebenskunst kann bedeuten, sich einzuüben in bestimmte Situationen, sich zu üben in bestimmten Gesten, die man sich aneignet z.B. in bezug auf den anderen, im Umgang mit dem anderen, der immer bestimmter Gesten bedarf. Das kann man durch Askese bewerkstelligen.

    Sprecherin (1)

  23. Einübung also in ein bestimmtes Verhalten, in ein bewußtes Tun gegenüber der Wirklichkeit und ihrer vielfältigen Gesichter. Eine Askese in Hinblick auf ein Ethos, nicht auf eine Ethik, die mir vorschreibt, was zu tun ist, sondern auf eine Haltung, die mir erlaubt, bewußt mit der Welt umzugehen, um ihr nicht einfach zu verfallen und mitzuschwimmen im gesellschaftlichen Mainstream. Zu lernen, den Kopf herauszuhalten aus diesem Strome. So wie die Philosophie der Lebenskunst keine Weltflucht propagiert, ist sie auch keine Philosophie der Weltveränderung. Heilsgeschichtliches religiöser wie säkularer Art sind ihr fremd. Ziel der Philosophie Senecas ist vielmehr das Bestehenkönnen der Zumutungen dieser Welt in dieser Welt.

    O-Ton Wilhelm Schmid

  24. Also Seneca ist interessant als ein Beispiel für antike Lebenskunst. Nicht in allen Punkten kann man das nun für moderne Lebenskunst heranziehen. Man kann nur davon lernen. Die moderne Situation ist von der antiken Situation, glaube ich, grundsätzlich verschieden. Zum einen schon, was die Anzahl der Menschen angeht, die Lebenskunst brauchen. In der Antike, zur Zeit Senecas, war das ein Problem von einigen wenigen. Heute aber scheint mir ist das in der Tat ein Problem der gesamten Gesellschaft. Jedenfalls der Gesellschaft, die wir kennen, d.h. einer modernen Gesellschaft. Der Grund dafür ist der, daß moderne Gesellschaften sich dadurch auszeichnen, Menschen in hohem Maße freizusetzen. Das ist lange Zeit als ein Vorteil empfunden worden, frei zu sein von Bevormundung durch den Staat, frei zu sein von der Bevormundung durch eine Religion zum Beispiel. Lange Zeit ist das als ein Vorteil empfunden worden, aber allmählich dämmert den Menschen, daß ihnen das nicht nur Freiheit, sondern auch Verantwortung zumißt. Und diese Verantwortung sind sie noch nicht in der Lage zu tragen, weil sie hatten niemals Gelegenheit sie einzuüben. Sie sind ja noch kaum in der Lage die Situation überhaupt zu verstehen. Woher kommt es, daß ich einfach nicht mehr in der Lage bin Beziehungen aufrecht zu erhalten? Wenn man sich umsieht in unserer Zeit, kennen wir nur zerbrechende Beziehungen. Woher kommt das? Das kommt daher, daß die Moderne und die Bedingungen der Moderne nicht favorabel dafür sind, irgendwelche Kontinuitäten zu bewahren. Es zählt nur das immer Neue, das immer Neue. Die Umsatzhäufigkeit, die Fluktuation ist das einzige, was zählt. Das können wir nicht einfach ändern, und ich halte es auch nicht für einen Nachteil, diese Situation. Sie fordert uns nur auf, eben uns selber stärker um die Lebensgestaltung zu kümmern.



      Anmerkungen 4


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