Ein Leben lang leben lernen
2000 Jahre Seneca und
die Philosophie der Stoa


3. Philosophie der Lebenskunst und die Philosophiegeschichte


Astrid Nettling


artefact text and translation
Cologne, Germany



Version 1.0 Mai 1996
e-mail: artefact@t-online.de

Inhaltsverzeichnis


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    3. Philosophie der Lebenskunst und die Philosophiegeschichte

    Sprecherin (1)

  1. Für den heutigen Menschen hat ein anderer Mythos größeres Gewicht gewonnen. Der Mythos von Narziß, der, gebannt von der glänzenden Oberfläche seines Spiegelbildes, nur sich selbst zu genießen imstande ist. Werk einer Mystifikation, in dem er sich selber feiert. Verbunden mit einer Erwartung vom Leben, das dem eigenen Selbst zu schmeicheln hat und in einem leichten Durchgang spielend einfach zu bewältigen ist. Entsprechend grassiert der Begriff der Lebenskunst in der Populärliteratur. "So lebt sich' s leichter", "Überall beliebt sein", "Das ABC der Lebenskunst" - in den meisten Fällen ein allgemeines Psychologisieren über das menschliche Leben, darüber, wie es um die Welt, die Gesellschaft und das Ich des Menschen bestellt ist. Was sie zumeist versprechen, ist eine leichte Existenz. Selbst das Grimmsche Wörterbuch vermerkt unter 'Lebenskunst' lediglich: "... die kunst zu leben, mit besonderer betonung der genuszseite des lebens." Wilhelm Schmid.

    O-Ton Wilhelm Schmid

  2. Ja, unter Lebenskunst wird meistens verstanden, wenn jemand ein leichtes Leben führt, ein spielerisches Leben, nichts so richtig ernst nimmt, immer irgendwie heiter ist und entsprechend auch der Lebenskünstler. Das hat mich schon dazu geführt, auf den Begriff des Lebenskünstlers zu verzichten und statt dessen vom Subjekt der Lebenskunst zu sprechen. Aber das kann natürlich nur eine Notlösung sein. Denn ich versteh unter Lebenskunst geprägt von Leuten, von Philosophen wie Seneca ein ernsthafteres Anliegen. Nicht unbedingt, daß das Leben leicht ist, das Leben kann möglicherweise sehr viel schwerer sein in einer Lebenskunst. Aber man bemüht sich dann eben damit zurecht zu kommen, mit Widersprüchen zurecht zu kommen, aber nicht unbedingt etwas auf die leichte Schulter zu nehmen.

    Sprecherin (1)

  3. Aus der Philosophie ist die ars vitae, die Lebenskunst, seit rund 200 Jahren verschwunden. So findet sich in den einschlägigen philosophischen Wörterbüchern kein Eintrag mehr unter Lebenskunst. Selbst das auf 11 Bände angelegte "Historische Wörterbuch der Philosophie" behandelt zwar die Leben-Jesu-Forschung, den Lebenskreis, die Lebenslüge und den Lebensplan nicht jedoch den Begriff der Lebenskunst.

    O-Ton Wilhelm Schmid

  4. Es gab ein zweifaches Verschwinden, was die Lebenskunst und vor allem Seneca angeht. Das erste Verschwinden war im Mittelalter. Das Verschwinden dieser Thematik und dieses Autors in der scholastischen Philosophie, die nur noch ein philosophisches System für sich selbst war. Daraus ist Seneca befreit worden von Montaigne. Das war die erste große Wiederentdeckung von Seneca und auch von den Zeitgenossen Montaignes, und das zweite Verschwinden, kann man relativ genau terminieren am Ende des 18. Jahrhunderts. Nachdem das 18. Jahrhundert voll ist von Senecarezeptionen - zu denken ist besonders an Diderot, der die Werke Senecas herausgibt. Und dann zum Beginn des nächsten Jahrhunderts, des 19. Jahrhunderts, kann man jedenfall konstatieren, Seneca spielt absolut keine Rolle mehr, und auch die Thematik der Lebenskunst spielt absolut keine Rolle mehr.

    Sprecherin (1)

  5. Wie die mittelalterliche Scholastik mit ihrer Ausrichtung auf das System, wie die Philosophie der Griechen in der Antike zuvor, ist auch die Philosophie der Neuzeit gekennzeichnet durch ihre großen, systematischen Entwürfe. Stets ging es darum, neue Fundamente zu gießen, auf denen sich dann ein alles umfassendes System aufbauen ließe. Demgegenüber dachte die Philosophie der Lebenskunst nach einem anderen Maß. Skeptisch etwa wie bei Montaigne gegenüber jedem absoluten Wahrheitsanspruch der Philosophie, nahm sie sich der kleinen Richtigkeiten an. Oder wie bei Seneca, dem es nicht um eine letztgültige Ausarbeitung des Wissens vom Menschen ging als vielmehr um das Tun des bereits Gewußten.

    Sprecher (2) (Zitat Hegel)

  6. Bei Seneca finden wir viel Erbauliches, Erweckendes, Bekräftigendes für das Gemüt, geistreiche Antithesen, Rhetorik, Scharfsinnigkeit der Unterscheidung; aber wir empfinden zugleich Kälte, Langeweile über diese moralischen Reden.

    Sprecherin (1)

  7. In der Weise wußte Hegel in seiner "Vorlesung über die Geschichte der Philosophie" die Philosophie Senecas mit einer gewissen Arroganz abzutun. Seneca wie auch Montaigne gehören nicht zur eigentlichen Philosophie, sondern bloß der allgemeinen Bildung an.

    Sprecher (2) (Zitat Hegel)

  8. Es ist eine Lebensphilosophie aus dem Kreise der menschlichen Erfahrung, wie es in der Welt, im Herzen, im Geiste des Menschen zugeht. Solche Erfahrungen haben sie aufgefaßt und mitgeteilt; sie sind so teils unterhaltend, teils lehrreich und sie sind dem Prinzipe nach, woraus sie geschöpft haben, ganz abgewichen von den Quellen und Methoden der bisherigen Weise des Erkennens. Aber indem sie nicht die höchste Frage, die die Philosophie interessiert, zum Gegenstand ihrer Untersuchungen machen und nicht aus dem Gedanken räsonnieren, so gehören sie nicht eigentlich der Geschichte der Philosophie an.

    Sprecherin (1)

  9. Man kann und sollte es heute anders wissen. Daß eine Philosophie der Lebenskunst nicht in jene Grauzone gehört, in der Weltanschauliches, Populärpsychologie, Pseudophilosophisches sich tummeln, aus deren Versatzstücken ein jeder sich ein Bild seiner selbst nach Belieben zusammenstümpern kann. Etwas, was mit dem Senecaschen Diktum vom "Bild seines Lebens" nichts zu tun hat. Nicht die Montage eines Idols seiner selbst, vielmehr seine Demontage und Kritik an allem Weltanschaulichen als Voraussetzung für ein mit Achtsamkeit und Sorge geführtes Leben. Gerd Achenbach, Philosoph und Betreiber einer Philosophischen Praxis, weiß aus eigener Erfahrung, wie weit das moderne Subjekt davon entfernt ist.

    O-Ton Gerd Achenbach

  10. Die Neuzeit kann man verschieden kennzeichnen. Am kennzeichnensten ist, glaub ich, daß mit ihr eine Revolution des Menschenbildes einhergegangen ist. Diese Revolution besteht darin, daß nicht mehr wie alle Zeit zuvor der Mensch annimmt, das Leben sei etwas, was man als Aufgabe bezeichnen könnte, die zu bewältigen ist, sondern es hat sich so eine Art allgemeiner Rousseauismus durchgesetzt und der meint folgendes. Das Leben ist etwas, was ganz von alleine gelingt - wenn es nicht Friktionen, Traumata erlebt, wenn es nicht gestört wird, wenn es nicht behindert wird. D.h. wenn die Mama die richtige Milch in der Brust hatte, der Vater nicht zu liberal und nicht zu autoritär war, die Brüderreihenfolge auch stimmte und wenn der Lehrer nicht einen allzu schrecklichen Einfluß ausgeübt hatte, dann gelingt das Leben, das glaubt man. D.h. das Leben ist etwas, was nur verhindert wird, was eigentlich nur negativ beeinflußt werden kann. Unter dieser Idee, die eine dumme Idee ist und übrigens der Therapeutik die große Stunde bereitete - jetzt gehts ja darum zu entdecken, was hat mich nun zu dem gemacht, was ich ja beklagenswerterweise bin, oder, was hat mich denn nicht sein lassen, was ich doch eigentlich wäre, und daraus können Sie eine sehr lange Therapie machen - unter dieser Idee kann natürlich Lebenskunst keine Anziehung haben. Erst wenn dieses Programm, dieses neuzeitliche Programm scheitert, wenn man also wieder merkt, daß der Mensch nicht einfach nur lebt, sondern sein Leben führt und daß zur Lebensführung eine gewisse Kompetenz gehört und wenn man dann außerdem noch merkt, daß die meisten in dieser Frage eher Dilettanten sind, Lebensführungsdilettanten, erst wenn das wieder aufgeht, dann hat die Frage nach der Lebenskunst auch wieder philosophisch hohe, dringliche Bedeutung.

    Sprecherin (1)

  11. Wohl und Wehe des modernen Subjekts, das in sein narzißtisches Ich glücklich-unglücklich verliebt, Gefangener seines Spiegelkabinetts bleibt und damit schlecht gerüstet ist, sein Leben mit Lebenskunst zu führen.

    O-Ton Gerd Achenbach

  12. Also Seneca vermag dem postmodernen Menschen nicht nur fast nichts mehr zu sagen, sondern niemand. Der postmoderne Mensch ist nämlich dieses unausstehliche Ekel, dem man überhaupt nichts mehr sagen kann und zwar in einem emphatischen Sinne nicht, er ist nämlich derjenige, der sich nichts mehr gesagt sein läßt. Um mal einen Philosophen der Gegenwart, Hans-Georg Gadamer, zu zitieren, er hat gesagt, das Verstehen, das philosophische Verstehen bestehe darin, sich etwas gesagt sein zu lassen. Das ist aber nicht die Art des postmodernen Menschen. Der ist gewissermaßen überzeugt, alles, was vor ihm da war, hinter sich zu haben und das allenfalls zu Zitierzwecken zu verbrauchen. Ich glaube, das Elend ist genau dies, daß wir heute mit größter, aber bedenklicher Selbstverständlichkeit behaupten, alle Überlieferung in moralischen und Lebensführungsfragen sei erledigt. Dies ist völlig falsch.

    Sprecherin (1)

  13. Sich etwas gesagt sein lassen - auch das setzt die Bereitschaft voraus, von sich abzusehen und auf etwas zu hören. Jemandem Gehör zu schenken, von dem man lernen kann. Etwa von seiner Lebenserfahrung - etwas ganz und gar Unmodernes, oder gar von Lebensweisheit - ein noch unzeitgemäßeres Wort. Hatte doch schon Schopenhauer in seinen "Aphorismen zur Lebensweisheit" der Bereitschaft des Menschen, sich etwas gesagt sein zu lassen, skeptische Absage erteilt.

    Sprecher (2) (Zitat Schopenhauer)

  14. Im Allgemeinen freilich haben die Weisen aller Zeiten immer das Selbe gesagt, und die Thoren, d.h. die unermeßliche Majorität aller Zeiten, haben immer das Selbe, nämlich das Gegentheil, getan: und so wird es denn auch ferner bleiben.



      Anmerkungen 3


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