kaum ständig noch

Phänomenologie der Männlichkeit als Wersein


Michael Eldred


artefact text and translation
Cologne, Germany


7. Faltung des Seyns: Männlichkeit und Weiblichkeit

b) Die Dimension von dir


Version 2.1 July 1996
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Inhaltsverzeichnis dieses Kapitels


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    7. b) Die Dimension von dir

  1. Du mußt, wenn überhaupt, vom Wersein her gedacht werden, denn das Wersein ist diejenige Dimension, die neben der traditionellen Dimension des Wasseins als eine transzendente Dimension sui generis hineinbricht. Diese andere, hineinbrechende Transzendenz verändert nicht das Aussehen der Welt; es ist, als wäre die Welt als Besorgungszusammenhang gar nichts anders als ein sachlicher Zusammenhang. Alles sieht so sachlich aus, aber das Menschenwesen hat sich nicht nur ins Dasein verwandelt, sondern dieses Dasein wiederum ins Wersein. Als Wer muß ich mich als ein Seiendes zu Stande bringen. Die Unmöglichkeit meiner Angleichung an das ständige Sein des Seiendes öffnet mich einer Labilität, die unverstehbarer Angang durch dich ist. Die Transzendenz zu dir hin in der Falte des Seins stimmt mein In-der-Welt-sein anders. Daß das Dasein wesenhaft Mitsein ist, heißt übersetzt, daß ich wesenhaft durch dich bin auch in der Ermangelung deines Angangs.

  2. Du bist mir als du ein Name, den ich rufe. Wie ich trägst auch du einen Eigennamen, der deinen Ort im Sein als du bezeichnet, markiert. Dein Eigenname steht für sich und besitzt seine eigene Aura. Du hast als du keinen Beruf, der dich in die Welt des Besorgens einordnen würde, sondern bist nackter, aber auratischer Eigenname. Als du erscheinst du in deiner leiblichen Erscheinung nicht einfach als Mensch, sondern als Eigengenannter. Indem wir uns gegenseitig unsere Eigennamen zurufen, begegnen wir uns unmittelbar und ermöglichen eine andere Welt. Die Stimmung unserer Begegnung dazwischen legt sich auf die Welt. Wir begegnen uns dazwischen; nicht aber schaffen wir dazwischen als die Dimension, in der wir uns begegnen, sondern dazwischen ist Gabe des Seyns selbst, die unseren gegenseitigen Angang erst ermöglicht. Ohne das Sein könnten wir uns nicht erreichen und nicht angehen. Durch dich geht in unserem Sprachspiel dazwischen eine Welt auf als Ermöglichung von Existenz. Unser gegenseitiger Zuruf ermöglicht eine andere Welt, oder genauer: unser gegenseitiges Zurufen wird durch diese andere Welt der Intimität als Ermöglichung ermöglicht. Diese Welt ist zwar von der Welt der Sorge nicht abgetrennt, aber aus dem Grund unserer Intimität miteinander heraus wird die Welt des Besorgens anders entworfen. Unsere Welt der zweiten Person durchschneidet und durchschreitet die Welt der Sorge mit einer eigenen Dimensionalität, mit einer anderen, gestimmten Transzendenz. Sie besteht nur in unserem gegenseitigen Blicken und Zurufen und Sprachspielen und ist insofern eine minimale, unscheinbare Welt neben der Welt, in der Gegenstände und Zeug vorkommen, aber nicht als solche. Das Minimale unserer Welt dazwischen mindert nicht ihren ontologischen Status als eine Welt, in der das Mitsein erst zu blühen vermag. Dazwischen liegt die Wahrheit der Unwahrheit der Ständigkeit des Daseins, denn das Dasein geht nicht in der Ständigkeit des Seins als die Entsprechung zum verstandenen Sein des Seienden restlos auf. Es gibt einen Rest dazwischen, der sich an die Welt des Seienden anlehnt und sich kaum bemerkbar macht.

  3. Ermöglichung von Welt dazwischen könnte hier auch Seinkönnen heißen und ist kein ontischer Titel für eine Ansammlung von Existenzmöglichkeiten, sondern bedeutet die Dimension und die ontologische Struktur einer Welt, die dann ontisch aus der Begegnung heraus auch entworfen werden kann. Du bist mir als du nicht in der Fürsorge präsent, sondern 'nur' als leibhaft erscheinender Eigenname unserer unbeherrschbaren Begegnung. Dein Ursprung aus welchem Besorgungszusammenhang auch immer hat hier keinerlei Bedeutung, sondern macht sich erst im nachhinein bemerkbar. Mit dir wird mein Fürsichsein auf einmal durchlässig und einem anderen Weltentwurf geöffnet. Mein Selbst als Fürsichsein und mein Selbst aus unserer Begegnung liegen auseinander in zwei auseinanderstrebenden Dimensionen. Jeder Grund für unsere Begegnung erfindet sich erst nachträglich, in der Begegnung selbst herrscht eine Unmittelbarkeit des Angangs, die nur - vielleicht - das Zurufen unserer Eigennamen zuläßt. Wir wissen nicht, wie Platon im Symposion schreibt, was wir voneinander wollen. Du bist für mich als du auch Wer und trägst deshalb einen Namen, einen Namen, der dich markiert und zum Namen eines anderen Weltentwurfs werden kann. In meinem Fürsichsein bin ich allerdings nicht ausschließlich in einer Egozentrik verstrickt; mein Fürsichsein hindert mich z.B. keineswegs daran, altruistisch zu sein. Altruismus schafft aber und ist keine Begegnung, keine Betroffenheit, kein Angegangensein durch den Anderen als dich. Wenn das Dasein - wie Heidegger ausführt - um der Welt willen existiert, dann existiere ich in der Begegnung umwillen deiner, weil dein Name mir punktiert ist. "Die Welt hat den Grundcharakter des Umwillen von... [...] Zur Selbstheit gehört Welt; diese ist wesenhaft daseinsbezogen."[1] Parallel dazu kann man in der Dimension der Begegnung dazwischen formulieren: Die Du-Welt (die keine Substantivierung zuläßt) hat den Grundcharakter des Umwillen deiner, was aber nicht heißt, daß ich mich nur um dich kümmere oder meine Interessen dir zuliebe aufgebe. Zu meiner Selbstheit gehörst du; du bist wesenhaft auf mich bezogen; meine Selbstheit differiert sich durch dich, d.h. meine Selbstheit kommt nicht zur Identität, weil sie immer wieder durch den anstimmenden Angang durch dich einer Differenz ausgesetzt wird. Dir zuliebe existiere ich, ich stehe zu dir heraus, der du meiner Welt gehörst nicht in der Weise einer ständigen Präsenz, sondern durch die Aura, die du über meine Welt ausbreitest. Diese Aussagen müssen ontologisch verstanden werden und nicht als ontische Haltungen und Vorkommnisse. Zuliebe deiner charakterisiert den Weltentwurf, der unserer Begegnung kaum aber immerhin entspringt. Unsere Begegnung ist bereits eine Transzendenz, die Transzendenz dazwischen, kraft derer wir uns zueinander als ich und du übersteigen. In der Begegnung werden wir zueinander entrückt und werden so zeit-weilig im Anflug verrückt nach einander. Dieses Verrücktsein nach einander heißt, daß unsere Begegnung die Kraft einer Weltbildung in sich trägt, mitunter die Möglichkeit eines anderen Weltentwurfs. Die Welt wird durch meine Begegnung mit dir verrückt. Dein Name, indem er dich hervorruft, ist mir weltverrückend.

  4. Bei Heidegger verhält es sich umgekehrt: "Nur weil Dasein als solches durch Selbstheit bestimmt ist, kann sich ein Ich-selbst zu einem Du-selbst verhalten. [...] Nie aber ist Selbstheit auf Du bezogen, sondern - weil all das erst ermöglichend - gegen das Ichsein und Dusein und erst recht etwa gegen die 'Geschlechtlichkeit' neutral."[2] Heidegger setzt die Selbstheit als das Ursprüngliche an, aus der erst Ichsein und Dusein hervorgehen. Dabei wird aber der besondere eigenständige ontologische Status der Dimension der Begegnung übersehen, und du wirst als ein Seiendes unter anderen verstanden, d.h. du wirst zu der dritten Person als einem Mitseienden assimiliert. Du bist dann Mitdaseiendes, daseinsmäßiges Seiendes, das auch verstanden werden kann. Heidegger übersieht, daß ich dich nicht verstehe, dich und die Dimension unserer Begegnung nicht im Verstehen zu Stand zu bringen vermag. Von der zweiten Dimension dazwischen gibt es jedoch kein Seinsverständnis, sondern nur anstimmenden, unfaßbaren Angang durch dich, der keine verstehbare Spur hinterläßt. Laut Heideggers Setzen des Daseins als neutralen Ursprungs des Selbstseins kämst du unter den Seienden vor und gehörtest in meine Welt hinein, ohne sie und mich selber erst zu ermöglichen. Wenn du aber zur Ermöglichung meiner Welt in der zweiten Dimension gehörst, dann bist du - durch deinen Namen ausgesondert - gleich bei mir in der ursprünglichen Transzendenz zu der in zwei Dimensionen gefalteten Welt, umwillen derer ich existiere. Ich existiere also umwillen der Welt und auch dir zuliebe. Beide Dimensionen müssen ontologisch haarscharf auseinander gehalten werden, wobei die zweite Dimension von dir eine bloße Falte im Seyn ist, die niemals in eine be-grenzte Ständigkeit gebracht zu werden vermag. Du bist kein Seiendes und kein anderer Mensch, sondern du bist Ereignis von dazwischen, nur ein flüchtiges Aufflackern einer anderen Dimension. Meine Selbstheit ist durch dich vermittelt oder vielmehr: wir werden aus unserer einmaligen, unverwechselbaren Begegnung dazwischen jeweils als 'Ich-Selbst' und 'Du-Selbst' entlassen. Es gibt kein Ich-Selbst, das vor unserer Begegnung Bestand hätte oder gegen unsere Begegnung dazwischen abgeschottet wäre. Gerade weil mein Selbst sich erst aus der Transzendenz zur Welt ereignet, bin ich aus der Faltung der Welt in die dritte Dimension des Seienden und die zweite Dimension von dir ursprünglich be-stimmt und gezeichnet.

  5. Kraft des zwiefältigen Daseins in mir vermag ich nicht nur Seiendes als Seiendes, sondern dich als dich zu erschließen. Oder: dem Dasein in mir ursprünglich ausgesetzt, vermag ich mich nicht dem Angang von Seiendem als solchem oder der Anstimmung durch dich zu verschließen. Du in deinem kaumsein stehst mir als Dasein offen. Du in deinem kaumsein unterscheidest dich vom Wassein. Bei dir, kaum bei mir an-wesend, zeigt sich der größte Abstand des Werseins vom Wassein. Als du bist du von mir nicht als etwas, etwa als Mensch oder als eine Person mit Namen, erschlossen, sondern in deiner unverwechselbaren Einzigkeit, die sich erst durch deinen unverwechselbaren Eigennamen rufen läßt, ohne jedoch zu sagen, was genau deine Einzigkeit ausmacht. In der leisen und rätselhaften Begegnung wird es uns - vor allem stimmungshaft - eröffnet, wer wir sind. Das ist keine Sache etwa eines Informationsaustausches oder der Kommunikation zwischen Subjekten, sondern macht sich in einer nicht weiter klarer zu definierenden und deshalb unbeständigen Vertrautheit bemerkbar. Als Dasein in die Begegnung dazwischen eingelassen vermag ich mich zeit-weilig einer Innigkeit mit dir zu öffnen. Diese weilende Innigkeit unterscheidet sich von der verstehenden Erschließung von ständig Seiendem, denn kein Seiendes vermag sich wie du dazwischen zu öffnen. Kein Ist-Seiendes ist des Mitseins fähig. Die Lichtung der Intimität ist eine andere als die Lichtung der Wahrheit des Seins des Seienden in der dritten Person. Es ist auch nicht so, daß ich dich als dich erschließe, sondern daß wir beide als in die Begegnung eingelassen von der Intimität er- oder umschlossen sind und erst dadurch uns als ich und du öffnen. Diese Offenheit der Intimität - die keine Entborgenheit, keine transparente Lichtung ist, in der ein verstehbarer Umriß zu Stande gebracht werden könnte - ist die (zweite) Dimension von dir, die Dimension kaum dazwischen. Sie entsteht nicht durch einen Gradunterschied, etwa dadurch, daß wir uns viel von einander erzählen, oder daß wir uns gut kennen, sondern ist ein Sprung, ein Überstieg in eine andere Dimension, über die wir nicht verfügen, sondern vielmehr in die wir immer wieder und unverhofft, unversehens eingefügt sind. Auch Menschen, die einander fremd sind, können plötzlich und unerklärlich in die Intimität dazwischen getaucht werden.

  6. In der Dimension der Vertrautheit und Intimität waltet die unscheinbare ontologische Ermöglichung eines Weltentwurfs aus unserer Begegnung heraus. Es findet in ihr eine Differenzierung von Identität, von fürsichseiender Selbigkeit statt. Durch deine Differenz zu mir in meiner Identität komme ich auf andere 'Gedanken', d.h. auf andere Möglichkeiten von Selbst-, und d.h. Weltentwurf. Die Intimität ist die Eröffnung und Lädierung meiner eingebildeten, allzu festen Selbigkeit, die nicht zum Abschluß kommen kann, und zwar deshalb, weil Welt zwiefältig durch dich und deine Anstimmung und das Spiel deiner Sprache geht. Der Abschluß meiner Identität ist aufgeschoben durch deine Differenz zu mir, die mich immer wieder aus meiner Identität herauszieht und damit mein Fürmichsein differieren läßt. Zu meiner Selbigkeit gehört Welt, wie Heidegger in 'Vom Wesen des Grundes' formuliert. In der Intimität der Begegnung wird meine fürsichseiende Selbigkeit aufgeschlossen und dadurch meine Welt zu anderen Möglichkeiten meines Seinkönnens eröffnet. Du bist in der Intimität Katalysator zu einem anderem Weltentwurf und dadurch Ermöglicher von mir, nicht als Ursache oder Grund, sondern eben als Katalysator, als Nebenauslöser von Weltentwurf. Es ist nämlich nicht bloß so, daß du mich beeinflußt, daß du mich etwa durch deine Überredungskunst zu bestimmten Plänen überredest, oder daß du bestimmte 'Beziehungen' hast, die mir nützlich sind, sondern daß die Intimität und unsere Umschlossenheit in ihr es allererst ermöglichen, daß du zu meiner Welt auf ganz besondere Weise gehören kannst dergestalt, daß du zu einem Drehpunkt meiner Welt wirst. Ohne dieses innige Inneliegen in der Lichtung der Intimität, in der du als du erscheinst, gäbe es auch keine Möglichkeit der Beeinflussung durch dich. Diese Beeinflussung läßt sich nicht mit der Beeinflussung durch eine dritte Person gleichsetzen oder gar vergleichen, denn es ist nicht primär das, was du sagst, was mich beeinflußt, sondern daß du es bist, der es sagt. Hier herrscht folgerichtig Unsachlichkeit vor. Deine Seinsweise als du aber verdankt sich der Intimität der Begegnung, einer Seinsweise, die haarscharf und kaum neben dem traditionellen tò ón liegt.



      Anmerkungen 7. b)


    1. 'Vom Wesen des Grundes' in Wegmarken 2. Auflage 1978 S.155. Back

    2. ebd. S. 156. Back

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