kaum ständig noch

Phänomenologie der Männlichkeit als Wersein


Michael Eldred


artefact text and translation
Cologne, Germany


5. Agonistisches Aneinandergeraten

f) Klassen, Macht, Wersein


Version 2.1 July 1996
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Inhaltsverzeichnis dieses Kapitels


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    5. f) Klassen, Macht, Wersein

  1. Insbesondere ordnen die durch Geld und Besitz festgelegten Klassenverhältnisse vertikal die Welt auch auf eine Weise, die den Ausgang des Aufeinandertreffens schon vorentscheidet, d.h. die Klassenverhältnisse sind bereits aus dem Austrag eines früheren Kampfs hervorgegangen. Auch wenn die formale Gleichheit als Person in der neuzeitlich-bürgerlichen Gesellschaft die direkte Macht eines Menschen über den anderen abgeschafft oder zumindest eingeschränkt hat, bedeutet dies freilich keineswegs, daß damit die ontologisch vorstrukturierte Klassenmacht abgeschafft worden ist. Die Klassenmacht des Besitzes und die Macht des bloßen Geldhabens des Einen über den Anderen sind indessen ihrerseits ontologisch noch ursprünglicher im Sein selbst bzw. im Wer-sein verankert, das eine Vertikalität der männlich Seienden als Wer im Offenen des polishaften Mitseins vorgibt. Das Sein als ständige Anwesung ist der Grund der Ermöglichung von geld- und besitzbedingten Standesverhältnissen, aus jenem letzten Grund gehen diese hervor und nicht umgekehrt. Ousia als Anwesen (Besitzstand) gründet in der ousia als ständiger Anwesung in den Kategorien des to on he on und nicht umgekehrt. Darin liegt eine seinsgeschichtliche Überbietung des von Marx und Engels entworfenen historischen Materialismus beschlossen.

  2. Oben und Unten als Wer wurzeln tiefer im Sein als das Oben und Unten einer besitz- oder staatsmachtbedingten Hierarchie und kommen deshalb durch eine Kritik der letzteren weder zur Sprache noch zur Entscheidung. Stattdessen wird von Theoretikern versucht, die ontologische Ordnung umzudrehen und auf diese Weise die 'psychologischen' Über- und Unterlegenheitsgefühle der Menschen im Umgang miteinander materialistisch auf Klassen- und Machtstrukturen begründend zurückzuführen. Daß solche Erklärungsversuche dem Phänomen des männlichen überhebend-vermessenen Werstandskampfs nicht gerecht werden, wird offenbar, sobald es einem aufgeht, daß sie die Wahrheit des Seins selbst als das Ermöglichende des Kampfes nicht im Blick haben. Der Werstandskampf ist keine Sache der Psychologie, die mit den 'Selbstwertgefühlen' von Subjekten erklärend hantiert, noch läßt sich das Phänomen des Werstandsaufbaus durch einen psychologischen Begriff des Narzißmus eines Ich einholen. Es wird hier vor jeder Subjektivitätstheorie angesetzt. Hier interessiert nicht das Bewußtsein eines Ich, sondern die einfache, seinsgegebene, vertikale Wesensweise der männlich Seienden in der ursprünglich-alltäglichen Lichtung der polis. Diese herausfordernde Wesensweise geht die männlich Seienden im Auftrag des als ständiger Anwesung waltenden Seins an.

  3. Das Fragen nach einer Männlichkeit des Seins fragt tiefer, radikaler, einfacher als jede Klassen- und Machtkritik, denn es bemüht sich darum, das Vertikale und Ständ-ige am abendländischen Menschsein selbst ins Denken zu überführen. Dazu gehört die Aufgabe, das tagtäglich beobachtbare, triviale Phänomen des männlichen 'Hahnenkampfs' in langsamen Gedanken zu fassen. Mit dem Wer geht das Sein den männlich Seienden existenzial ursprünglicher als jedes 'gesellschaftliche Verhältnis' an. Es wird zu einem Rätsel, daß der männlich Seiende ein Seiendes ist, ein Seiendes, das in der Kategorie des Wer gedacht werden muß, statt daß Klassen- bzw. Machtverhältnisse mit einem kritisch-aufklärerischen Gestus entlarvt werden. Das Denken des Werseins ist keine Kritik, sondern ein tastendes In-die-Sprache-rufen, das dem Ursprung der männlichen Existenz in der Metaphysik selbst nachgeht.

  4. Es läßt sich leicht der empirische Einwand erheben, daß nicht jeder männlich Seiende grundsätzlich auf Wer-Kampf aus ist, d.h. daß es 'bescheidene' oder 'konziliante' oder 'sanftmütige' Wesen gibt, die friedfertig jede Agonistik scheuen, und die an einem Aufwärtstreben nicht interessiert sind. Die bescheidene Nettigkeit und Mittelmäßigkeit sind jedoch auch nur Möglichkeiten des Seins als Wer, die ein Weniger an Sein aufweisen als der mächtige Wer, der über andere verfügt. Die Netten und Konzilianten sind die 'Knechte', von denen Heraklit sprach. Man erklärt solche unterwürfigen Verhaltensweisen gern als 'natürliche' 'psychologische' Anlagen, was freilich nichts sagt. Heute legt sich jeder seine Welt mit solchen anthropologischen Erklärungsmustern zurecht. Solche Einsicht in das Unterwürfigkeitsverhalten gehört zur allgemeinen psychologischen Menschenkenntnis und hat darin ihre Berechtigung fürs alltägliche Überleben. Zugleich wird bemerkt, daß im 'Tierreich' solch unterwürfiges Verhalten und der Totstellreflex eine markante Rolle spielen. Will das Denken also an dieser Stelle allgemein bekannte Menschenkenntnis oder gar biologische Erkenntnis als tiefe Einsicht ausgeben? Keineswegs - denn weder der Alltagsverstand noch die biologische Wissenschaft bedenken ihre eigenen seinsgegebenen Voraussetzungen. Die phänomenologische Wesensentfaltung in diesem Kapitel will lediglich aufzeigen, wie aus einer Schickung des Seins selbst ein Werstandskampf in der politischen Lichtung hervorgeht. Das Sein als Wer ist der Grund eines bestimmten Verhaltens als Verhältnis zum Miteinandersein, nämlich der Wer-Vermessung. Der Werstandskampf sowie der Ruf und die Namenhaftigkeit gehören zur Wesensentfaltung des Werseins. Diese männliche Seinsweise (Wesen), die Kategorie des Wer, ist zunächst durch Eigennamen- und Larventrägerschaft gekennzeichnet. Als Seiendes ist der männlich Seiende Wer. Das Werseiende als in den Grenzen seines Aussehens ständig und deshalb dauerhaft Erblickbares ist zugleich wehrhaft und somit auch agonistisch, d.h. in die Auseinandersetzung um den Rang im Werstand eingelassen oder vielmehr geworfen.



      Anmerkungen 5. f)


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