kaum ständig noch

Phänomenologie der Männlichkeit als Wersein


Michael Eldred


artefact text and translation
Cologne, Germany


4. Der Ruf in die Polis

l) Das, was ist, ereignet sich zufällig?


Version 2.1 July 1996
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Inhaltsverzeichnis dieses Kapitels


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    4. l) Das, was ist, ereignet sich zufällig?

  1. Sei es, daß der Ruhm eines Schaffenden als ein wahrhaft verdienter, sei es, daß er in der Gestalt des "bloßen Berühmtseins" als ein dünkelhafter, erstrebter, gefälliger in die polis hineinscheint und von dort aus ihrer Lichtung weiter herausstrahlt, er ist nur kraft der Unverborgenheit als Wer, welche die polis, eine geschichtliche Mitwelt, als Lichtung gewährt. Auch der ruhmhafte Kunstschaffende oder Denker, indem er seinem Auftrag entspricht, stellt seine Kunstwerke bzw. sein wortschenkendes Denken in eine politische Lichtung hinein, die seinen damit verbundenen Namen letztlich geschichtlich werden läßt, d.h. im Gedächtnis eines Menschentums aufgehoben. Wie aber, wenn die Möglichkeit von Größe und Ruhm dadurch fragwürdig geworden sind, daß der Werkcharakter des Kunstwerkes sich gewandelt hat, derart daß es das Seiende im Ganzen anders entwirft, so daß Werke im traditionellen Sinn dergestalt anachronistisch werden, daß sie nicht mehr die geschichtliche Mitwelt mitzugestalten vermögen? Dies würde freilich den Sinn der bisherigen Rede vom Werk als einem Hervorgebrachten ändern und verschieben.

  2. Wenn - um wieder mit Heidegger zu sprechen - die Kunst (und das Denken) darüber mitentscheidet, "als was das Seiende ins Offene kommt" (HW S.61), dann wird auch darüber entschieden - da das Kunstwerk eben auch ein Seiendes ist -, was als ein Kunstwerk gelten kann. In der Neuzeit ist das Seiende Gegenstand für ein Subjekt gewesen, und Kunstwerke sind in der Neuzeit Gegenstände, die von Subjekten hervorgebracht werden, für Betrachter, die ebenfalls Subjekte sind. Die subjektive Hervorbringung wurde als Ausdruck des Subjekts und das Kunstschaffen als eine Art Kommunikation zwischen Subjekten verstanden. Heute währt dieses Verständnis immer noch. Das ist in einer Hinsicht nur ein kleiner Unterschied von der griechischen Welt, sofern die griechischen Künstler auch Hervorbringer waren. Kunst ist für die Griechen sowie in der Neuzeit ein poietisches, hervorbringendes Tun, das ein ständig Seiendes mit vollendeten Grenzen, nämlich das Kunstwerk, einer Vorstellung gemäß der Verborgenheit entreißt und in die Welt stellt. Wie aber, wenn das Seiende nicht mehr das vorstellungsgemäße Hervorgebrachte sein könnte, sondern als das aus der Überfülle von sich aus zufällig Sichereignende entworfen wird? Ein anderes Leitmotiv fürs Seiende wäre dann: die Welt ist alles, was geschieht. Wenn es nicht mehr darum ginge noch gehen könnte, nur ein seiendes Werk in die Unverborgenheit willentlich hervorzubringen, sondern darum, im Hervorbringen das Seiende selbst sich ereignen zu lassen, dann läge ein anderes Kunstverständnis vor. Wenn das Seiende in einem mutigen Wurf geschichtlich anders entworfen wird als das, was sich zufällig und mithin unverstehbar ereignet, dann sind der Künstler - als Paradigma des schöpferischen Menschen - und sein Publikum herausgefordert, das, was geschieht, zu akzeptieren, d.h. geschehen zu lassen. Wenn der schöpferische Künstler nicht mehr primär Hervorbringer sein kann, weil das Seiende sich von sich aus ereignet und nicht mehr hervorgebracht zu werden braucht, wie kann es dann noch Künstler geben?

  3. Das Seiende sein lassen, wie es sich ereignet, heißt, seine Eigen-Ständigkeit in der Lichtung der Wahrheit des Seins anerkennen, heißt, seine unerklärliche und unverstehbare Differenz zu mir zulassen. Vorausgesetzt, eines tastenden Denkversuchs halber, das Seiende im Ganzen wird als das Sich-zufällig-ereignende, als das grundlos Geschehende entworfen - was eine andere, nicht-poietische und deshalb nicht-politische, geschichtliche Welt stiftet -, dann kann es nicht mehr darum gehen, etwas als Schöpfer hervorzubringen, ein Seiendes gemäß einer Vorstellung in die Lichtung der Wahrheit des Seins zu stellen, es vorstellungs-gemäß in der Lichtung einzurichten. Der Sinn des Nicht bleibt hier noch ungeklärt, da es sich nicht um eine blanke Negation handeln kann, sondern es darum gehen muß, ein Kunstwerk so in die Lichtung zu stellen, daß die Leitvorstellung zurücktritt und das Seiende geschehen läßt, d.h. dem zufällig sichereignenden Seienden Raum gewährt, statt es einzurichten. Unter solchen Umständen ist das Kunstwerk nicht mehr emphatisch oder primär ein unter dem Geleit einer wissenden Vorstellung Hervorgebrachtes - was das Wesen der techne ausmachte -, sondern eine Weise, einen Kunstzeitraum vorstellungslos geschehen zu lassen. Beim Hervorbringen findet zugleich ein Zurücktreten vom Vorstellen statt. Das Nicht der Negation des Kunstwerks betrifft vor allem den Verzicht aufs Vorstellen, welches das Kunstwerk im Voraus wissend entwirft. Die poiesis als Paradigma der Kunst tritt zurück, der Mensch als vorstellender Hervorbringer tritt aus dem Zentrum zurück, und zwar so, daß sowohl Kunstwerk als auch Mensch angesichts der Fülle des Geschehens unscheinbar werden, da das Kunstwerk keine Vorstellung mehr verwirklicht. Es ist eine geschehenlassende Kunst, die nicht das, was geschieht, beabsichtigt, sondern einen Rahmen, einen offenen Zeitraum für das Geschehen bereitstellt und diesen Zeitraum so kreativ und kunstreich einrichtet, daß etwas geschehen kann (aber nicht muß). Das Andere sollte sich ereignen (können), nicht das, was der Eine (der Künstler) von sich aus (als Subjekt) entwirft und sich demgemäß vor-stellt. Das Seiende so zu entwerfen, bedeutet eine Aussetzung der Identität zwischen dem Künstler und dem Kunstwerk. Das Kunstwerk ereignet sich und überrascht den Künstler genauso, wie es das Publikum überrascht. Was geschieht, ist in hohem Grad unvorhersehbar, da zufällig. Das Kunstwerk bietet dann kein Paradigma mehr, die Welt zu verstehen, sondern Gelegenheit, das Unverstehbare des sich ereignenden Geschehens von Welt aufmerksam zu erfahren und es dabei bewenden zu lassen. Während für das moderne Subjekt es immer darum gegangen ist, die Zusammenhänge der Welt - nach dem Modell der Wissenschaft - zu verstehen, erfordert ein anderer Entwurf des Seienden im Ganzen, das Nicht-verstehen zu lernen und das Seiende von sich aus in der Lichtung entstehen und vergehen, auftauchen und verschwinden zu lassen. Dies ist eine Gegenbewegung zur technischen Einrichtung der Welt unter dem Anstoß der Einsicht, daß die Not der Menschheit im heutigen geschichtlichen Augenblick nicht mehr primär darin liegt, das Seiende zu meistern, zu beherrschen, sondern durch einen Schritt vom Vorstellen zurück ihm vielmehr Raum zu gewähren. Dies bedeutet freilich keineswegs, daß die Wissenschaften nicht weiterhin vorpreschen werden, um ins Seiende einzudringen und es zu beherrschen, aber es eröffnet der Menschheit die Möglichkeit einer anderen geschichtlichen Haltung, welche die einfache Gegebenheit von Sein und Zeit bedenkt.

  4. Diese vor-läufigen Bemerkungen zum Werk und zur Kunst sind aus einer Besinnung über die einzigartigen Anstöße des Künstlers John Cage hervorgegangen, der zweifelsohne einer der großen Vorbereiter eines anderen Kunstverständnisses im 20. Jahrhundert gewesen ist. Cage wird hier freilich vor einem Heideggerschen Hintergrund aufgenommen auf eine Weise, die Heidegger - nicht zuletzt wegen seiner Vorbehalte gegen den 'Amerikanismus'[1] - bestimmt nie im Sinn hatte. Wenn diese Bemerkungen Bestand haben sollten, dann sind die obigen Ausführungen zum Leiden des schöpferischen Wer an seinem Werk insofern irreführend, als sie stark von der Hervorbringung eines beständig seienden Werks, d.h. von einem poietischen Kunstverständnis, aus gesagt sind. Der 'große' Werseiende tritt in dem Maße zurück, als der andere Entwurf des Seienden als des sich zufällig Ereignenden dies erfordert. Seine Größe wäre vielleicht proportional zur Distanz seines Zurücktretens, das das Seiende sich ereignen läßt, ohne zu versuchen, es in einer beständigen Gestalt festzuhalten. Die Lichtung des Seins wird so zu einer Lichtung eines Geschehens, das nicht hervorgebracht zu werden braucht, sondern dem Menschenwesen mit all seinen Schrecken und Freuden gegeben ist. Der Künstler bereitet einen Raum für ein Kunstgeschehen vor und tritt zurück, ein eminent 'weiblicher' Akt im Dienst des Anderen. (Die Weiblichkeit wird eigens als Thema im Kapitel 6 aufgenommen werden.) Die Verstehensverbindung zwischen dem Künstler und dem im Kunstwerk sich ereignenden Seienden ist also durch Unbestimmtheit durchtrennt, so daß die Urheberschaft des Werks im Künstler selbst fragwürdig und zweitrangig wird. Der Künstler ist nicht mehr der Zugrundeliegende, das beherrschende Subjekt seines Werkes, sondern sein erfinderischer und einfallsreicher Zeitraum- und Gastgeber. Die Hingabe ans Werk heißt nicht mehr, mit Leidenschaft an einer Hervorbringung arbeiten, sondern sich Mühe geben, um einen Kunstraum für ein komplexes oder einfaches, unbeabsichtigtes Geschehen bereitzustellen. Das 'Können' des Künstlers zeigt sich dann nicht mehr in seinem Vermögen, ein beständiges Seiendes beherrschend hervorzubringen, sondern darin, ein Geschehnis auszulösen und sich dabei aus dem Weg zu stehlen, damit Seiendes im Licht des Seins geschehe. Der große Wer ist so paradoxerweise zu einer unscheinbaren Gestalt geworden, und es zeichnet sich ab, daß das Wersein selbst als eine an die metaphysische Epoche gebundene Seinsweise einsehbar wird. Wahrer Ruhm bedeutet vielleicht dann, in der Namenlosigkeit ver- und geborgen zu leben. (lathe biosas - Epikur) Und die Welt nach diesem neuen Entwurf des Seienden? Die Welt bleibt Lichtung der Wahrheit des Seins, aber dies übersetzt sich nun so: die Welt ist das Offene, in dem sich Zufälliges ereignet. In der metaphysischen Epoche hingegen war das Seiende beständig Anwesendes in verschiedenen Ausprägungen, da das Seiende selbst vorrangig war und nicht der Zeitraum, in dem Seiendes fürs Menschenwesen anzuwesen vermag. Damit wird dieser kurze, skizzenhafte, fragende und deshalb noch nicht endgültige Exkurs zum schöpferischen Wer und zur Wahrheit des Werks abgebrochen.

  5. In diesem Kapitel haben wir die Öffentlichkeit des Werseins als Namhaftigkeit erörtert, in den Kapiteln 2-3 zuvor das Wersein in erster Linie als Verhältnis des Wer zu sich selbst. Im nächsten wenden wir uns in einem ersten Anlauf der Betrachtung des Umgangs der männlich Werseienden untereinander zu.



      Anmerkungen 4. l)


    1. Aus vielen möglichen Stellen nur ein Beispiel aus der Freiburger Vorlesung im Sommersemester des Kriegsjahrs 1942: "Wir wissen heute, daß die angelsächsische Welt des Amerikanismus entschlossen ist, Europa, und d.h. die Heimat, und d.h. den Anfang des Abendländischen, zu vernichten. Anfängliches ist unzerstörbar. Der Eintritt Amerikas in diesen planetarischen Krieg ist nicht der Eintritt in die Geschichte, sondern ist bereits schon der letzte amerikanische Akt der amerikanischen Geschichtslosigkeit und Selbstverwüstung. Denn dieser Akt ist die Absage an das Anfängliche und die Entscheidung für das Anfanglose. Der verborgene Geist des Anfänglichen im Abendland wird für diesen Prozeß der Selbstverwüstung des Anfanglosen nicht einmal den Blick der Verachtung übrig haben, sondern aus der Gelassenheit der Ruhe des Anfänglichen auf seine Sternstunde warten." (GA Bd. 53 S. 68) Hier in dieser kuriosen hochmütigen seynsgeschichtlichen Deutung des Eintritts der USA in den Zweiten Weltkrieg finden sich einige bedeutungsschwere Worte zusammengeballt, wie z.B. "Abendland", "Anfängliche", "Anfanglose", "Geist" und "Gelassenheit". Letzteres scheint Heideggers Nachkriegshaltung zu prägen. Trotz der Vorbehalte gegen den Geist als metaphysisches Erbe wird gerade der Geist des abendländischen Anfangs als Abwehr gegen den Amerikanismus beschworen. Heideggers Mißtrauen gegen das Angelsächsische und vor allem gegen das Amerikanische sitzt tief und hindert ihn daran, igend etwas aus dieser Gegend denkerisch ernst zu nehmen. Woher diese Abwehr? Könnte es sein, daß, indem er sich in einem Antiamerikanismus verschanzt, Heidegger leugnet und verdrängt, daß durch seine Parteinahme für den Nationalsozialismus er selber unermeßlichen Schaden am geschichtlichen Auftrag des 'deutschen Volks' angerichtet hat? In der gleichen Vorlesung ist auch die Rede von der "geschichtlichen Einzigkeit des Nationalsozialismus" (S. 106; vgl. auch S. 98). Diese sybillinische Formulierung deutet Heideggers ambivalente Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus an, eine Ambivalenz, die nie aufgelöst wird, sondern in Heideggers Schweigen nach dem Krieg untergeht. Auf Heidegger hat der Nationalsozialismus eine ungeheure Anziehung ausgeübt, eine Anziehung, die mit der Großartigkeit seines Denkens selbst eng verwandt ist. Vgl. meinen Aufsatz 'Heideggers Hölderlin und/and John Cage'. Back

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