Eine einzige Fuge des aber...
    Sein und Erinnern bei Hölderlin und Heidegger -
    Eine Notiz zu den späten pindarischen Andenken-Gesängen

    (3)

    Hans-Dieter Jünger


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    Cologne, Germany


    Version 1.0 September 2000



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    Die Nähe der späten Andenken-Hymnen ergibt sich aus vielfältig und unmittelbar korrespondierenden Elementen innerhalb dieser Gesänge, der Titelwahl und auffälligen Analogien hinsichtlich des zentralen Themas "Andenken", des Gedichtaufbaus und ihrer Tonlage. Diese besondere, schon eine regelrechte Einheit konstituierende Nachbarschaft dieser Gesänge - die deshalb im folgenden kurz Andenken-Gesänge genannt werden - erschließt sich vor allem auch aus einer gemeinsamen "Tiefenstruktur" dieser Dichtungen, der wir uns vielleicht am ehesten nähern können, wenn wir jenem auffällig gehäuften dichterischen "aber" in diesen Gesängen etwas Aufmerksamkeit widmen.

    Martin Heidegger hat diese Abhängigkeit und innere Einheit der Gesänge hervorgehoben und in seinen Deutungen zu berücksichtigen versucht. Ihm ist auch dieses sonderbare aber in diesen Gedichten nicht entgangen, wenn er am Ende seiner ANDENKEN-Zwiesprache schreibt: "'Andenken' ist eine einzige in sich gefugte Fuge des aber, die das Wort des Rätsels nennt, als welches das Reinentsprungene im Ursprung bleibt." Ob und inwiefern ausgerechnet dieses, auf den ersten Blick eher unscheinbare, dichterische aber das "Wort des Rätsels des Reinentsprungenen", also eines vom Ursprung ereigneten dichterischen Andenkens und sogar des Ursprungs selbst nennt, und wie sich dies zum Grundthema des Andenkens verhält, ist etwas näher zu betrachten.

    Liest man die inzwischen nicht wenigen philologischen Beiträge zum ANDENKEN-Gesang einmal aufmerksamer in Hinblick auf die jeweilige Gewichtung dieser dichterischen aber, so stellt man fest, daß offenbar gerade dieses unscheinbare Strukturwort die entscheidenden Weichen für das jeweilige Verständnis überhaupt stellt. Und diese Weichen gehen in sehr viele Richtungen. Je nachdem welche aber in diesem Gesang - und es sind derer insgesamt acht, wie es, merkwürdigerweise, auch im ISTER-Gesang und im MNEMOSYNE-Gesang [3.Fass.] jeweils acht an der Zahl sind - als jeweils die Sinnrichtung wendenden aber erkannt, und welche als eher weniger akzentuiert aufgefaßt oder gar stillschweigend übergangen werden, ergeben sich zwangsläufig die unterschiedlichsten Deutungen im Ganzen. Um es an der "Aber-Fuge" des ANDENKEN-Gesangs zu veranschaulichen - wir könnten aber ebenso gut die beiden anderen Gesänge heranziehen, deren "Aber-Gerüst" ganz ähnlicher Art ist:

    Der Nordost wehet --- 
    Geh aber nun --- 
    Tief fällt der Bach, darüber aber ---
    Noch denket das mir wohl---
    Im Hofe aber wächset ein Feigenbaum ---
    Einwiegende Lüfte ziehen 
    Es reiche aber ---
    Wo aber sind die Freunde --- 
    Und eingeborener Tanz nicht ---
    Nun aber sind --- 
    Es nehmet aber --- 
    Was bleibet aber ---
    Nun ist es offensichtlich, und alle Deutungsversuche belegen das auf ihre Weise, daß nicht alle diese aber über die gleiche Gravität und Negationskraft verfügen. Während etwa in aller Regel das letzte (und allein aufgrund seiner Position schon akzentuierte) aber als ein außerordentlich wendendes aufgefaßt wird, fällt dies hingegen beim zweiten oder dritten aber schon viel schwerer, denn hier ist ohne weiteres gar kein semantischer Gegensatz auszumachen. Ja, wir müssen uns bei näherer Betrachtung sogar fragen, ob die Entgegensetzung und Negation überhaupt das Wesen dieser dichterischen aber ist.

    Natürlich neigt jede reflektierende und analytisch-zergliedernde Beschäftigung mit einem Gedicht unwillkürlich dazu, diese dichterischen aber kurzerhand als logisch entgegensetzende zu lesen, allein deshalb, weil dies auch dem gewöhnlichen Alltagsgebrauch des Wortes in der deutschen Sprache, erst recht aber dem wissenschaftlichen Hang zur Eindeutigkeit entspricht. Doch ist dieses dichterische aber überhaupt ein logisches? Ist es in den Andenken-Gesängen überhaupt ein deutsches "aber"? Woher kommt dieses Struktur- und Fugen-Wort in diesen Gesängen, und was genauer strukturiert es eigentlich?

    Die Quelle ist, so nehmen wir an, auf eine sehr unmittelbare Weise Pindars Dichtung. Das hölderlinische aber der Andenken-Gesänge ist das ganz unmittelbar in seinem unverwechselbaren. primär rhythmisch-euphonischen Charakter übernommene pindarische "dé". Als solches erscheint es in dieser Form sonst nur noch an einer Stelle in Hölderlins Werk, und zwar nicht zufällig in den späten Pindar-Übertragungen. Das in dieser gleichsam "griechischen Form" nur in diesem engeren Bereich begegnende dichterische aber erweist sich bei näherer Betrachtung - und zwar sowohl in den pindarischen Oden wie auch in Hölderlins Pindar-Übertragungen und eben diesen Andenken-Gesängen selbst - als kein primär diskursives, logisch-entgegensetzendes, sondern im wesentlichen ein den euphonischen Von-Wort-zu-Wort-Rhythmus und nicht zuletzt die hohe Tonlage konstituierendes aber. Es ist ein archaisch-erzählendes, mitunter auch aufzählendes, ein einfältig-feierlich voran- und emporschreitendes aber.

    Von Pindars Dichtung sagt Fränkel einmal: "Die Schwierigkeiten seiner Rede beruhen (...) darauf, daß er im spätesten Alter seiner Epoche als Meister, wissend und gläubig, zu Verstehenden und Gläubigen spricht, in gesammelter, abkürzender Kunstform, nicht beschreibend und erklärend, sondern andeutend und erinnernd." [1] Das gilt auch für den späten Hölderlin: nicht beschreibend, sondern in oft eliptisch verkürzten, jedoch meisterhaft kühnen Rhythmen für den Hörenden und Andenkenden mit Winken "andeutend und erinnernd" - dies kennzeichnet Hölderlins späte Gesänge ebenso wie Pindars Kunst. Als die wesentlichen Merkmale der (einzig erhaltenen)EPINIKIEN Pindars hat man immer wieder den Mythos, die Spruchweisheit (Gnomik), die Mahnung zum Angedenken, den Lobgesang auf die Musen sowie die (insbesondere männlichen) Tugenden und, in den Epinikien, natürlich das Siegerlob hervorgehoben. [2] Mit Ausnahme des letzteren selbstverständlich finden wir diese Konstituenten auch in Hölderlins Spätdichtung wieder, und zwar keineswegs schematisch als bloße Bestandteile, sondern vielmehr in einer organischen Einheit und Ursprünglichkeit, die insbesondere (wie bei Pindar auch) schroffe Brüche und harte Fügungen einschließt. Auch der formale triadische Aufbau der EPINIKIEN, [3] erst recht aber natürlich pindarisches Mythengut begegnen in Hölderlins Spätwerk vielfältig wieder, in besonders unmittelbarer Form aber wiederum in den Andenken-Gesängen.

    Was nun jenes bei Pindar bei fast jedem Schritt begegnende "dé" angeht, so hebt hierzu Fränkel in einer leider etwas allzu logisch vorgeprägten Sinnrichtung hervor: "Im archaischen Pendelschlag des Gedankens von Gegensatz zu Gegensatz werden Mensch und Gott aus ihrer Verwandtschaft und Verschiedenheit verstanden (...) Das Schema ist dies: Mensch und Gott sind verwandt - und doch durchaus verschieden - aber manchmal wird der Mensch gottähnlich - und doch ist er hilflos jedem Wechsel ausgesetzt...". [4] Es drückt sicherlich etwas Wahres aus, daß bei Pindar wie bei Hölderlin dieser "archaische Pendelschlag" - man könnte auch sagen: der Rhythmus jenes heraklitischen Einen-in-sich-Unterschiedenen - eine sinnhaft prägende Gestalt ist, die sich in der Tat daraus erklärt, daß dieses ursprungsnahe Dichten Gott und Mensch, Sein und Dasein, Himmel und Erde immer schon aus jener in sich oszillierenden Einheit von Einheit und Differenz heraus erfährt. Man könnte sogar sagen: dieser "archaische Pendelschlag" ist hier eine Art Verlängerung dieses "Seins-Pulses" selbst - worauf wohl Heideggers Wort von der "Fuge des aber", die "das Rätsel" selbst nennt, auch - aber nicht nur - weist.

    Doch kann dies im vorliegenden Zusammenhang gerade nicht heißen, daß es lediglich um einen "Gedanken, der von Gegensatz zu Gegensatz eilt", geht. Auch bedeutet es keineswegs, daß bei Pindar jedes dichterische "dé" immer oder auch nur vorrangig über diese besondere semantische Dimension verfügt, was gewiß ein kurzschlüssiges Verständnis wäre. Wir dürfen hier den unmittelbar musischen und musikalischen Grund des Dichtens Pindars (und Hölderlins) nicht vergessen. Dieses Dichten schwingt gleichsam auf unmittelbar musische Weise im ein- und auskehrenden Puls des Seins, es ist ursprüngliches mélos (was es auch, Heidegger war sich dessen bewußt, von einem "rein denkerischen" Andenken unterscheidet).

    Tatsächlich ist das pindarische "dé" in den allermeisten Fällen gerade nicht in diesem kurzschlüssigen Sinne semantisch geprägt, ja es erschiene, rein semantisch betrachtet, sogar oft als bloßes Füll- oder Schmuckwort. Vielmehr scheint es einen euphonischen Grund- und Halteton zu setzen, der jenen festlich voranschreitenden Gang seiner Oden wesentlich mitprägt und mitträgt, der sozusagen jene "Treppen" baut, auf denen, wie Heidegger in Hinblick auf Hölderlins ANDENKEN-Hymne sagt, "die Himmlischen herabsteigen" können. Kein bloßer rationalistischer Pendelschlag als das Hin-und-Her eines "Einerseits-Andrerseits" ist hier am Werk, sondern wir haben es vielmehr mit einer außergewöhnlichen musisch-poietischen Anabasis zu tun, und zwar bei Pindar wie bei Hölderlin.

    Bei Pindar hat das in diesem Sinne tragend-fugende "dé" immer auch (und häufig ausschließlich) diesen musikalisch motivierten mythisch-emporschreitenden und gleichsam in den "Heimweg des Erinnerns einsammelnden" Charakter, so daß eine Leseweise, die hier immer nur diskursive aber vermuten wollte, zwangsläufig auf lauter dunklen Sinn stoßen müßte. Anders verhält es sich aber bei Hölderlin. In aller Regel gebraucht er, und zwar bis in die späten (ansonsten schon unübersehbar pindarisch geprägten) großen Hymnen und die sogenannten "Vaterländischen Gesänge" hinein, durchaus ein "deutsches", semantisch mehr oder weniger antithetisches aber. Anders ist dies in den späten Pindar-Übertragungen sowie in den Andenken-Gesängen, in denen nun in der Tat jenes unmittelbar vom pindarischen Sprachduktus übernommene und insofern eher griechische als deutsche aber begegnet. [5]

    Daß es so ist, zeigt schon die auffällige Häufigkeit dieses Wortes in den Andenken-Gesängen, aber auch der Tatbestand, daß eine Leseweise, die immer schon von einem logisch-entgegensetzenden und negierenden aber in diesen Gesängen ausgeht, auf unlösbare Verständnisschwierigkeiten und Aporien stößt, jedenfalls faktisch gar nicht umhinkommt, mehr oder weniger entscheidende, aber aus dem Gedicht selbst gar nicht ohne weiteres ausweisbare Abstufungen hinsichtlich des Gewichts der jeweiligen aber vorzunehmen.

    Wir müssen uns nur die drei ersten aber des ISTER-Gesangs näher ansehen, um die Unangemessenheit, ja Unhaltbarkeit einer solchen logizistischen Leseweise zu vergegenwärtigen. Nach dem Anruf "Jetzt komme, Feuer!" - es ist, was sonst, bei Hölderlin ein authentischer Mnemosyne- und Musen-Anruf - heißt es einige Verse später, ohne das irgendein Gegensatz oder Wechsel der Perspektive auszumachen wäre: "Wir singen aber vom Indus her (...)"; und wiederum einige Verse später, ohne daß auch hier ein wirklicher Gegensatz zu erkennen wäre: "Hier aber wollen wir bauen (...)", nämlich just am zuvor schon genannten "Indus" beziehungsweise "Alpheus". Der Kontext des dritten aber im Auftaktvers der zweiten Strophe lautet schließlich: "Man nennet aber diesen den Ister (...)". Auch das nennt selbstverständlich überhaupt keinen Gegensatz zum "Indus" und "Alpheus", sondern es dichtet gerade die poietische Einheit dieser Ströme im Zeichen des vielzitierten "Stromgeistes" des herkünftigen Erinnerns.

    Diese aber in den Andenken-Gesängen stellen also gar nicht gegenüber oder sogar gegeneinander, sie trennen nicht; vielmehr scheinen sie, wie bei Pindar, mythisch voranschreitend zu verbinden und "Treppen zu bauen". Dies heißt zwar nicht, daß wir diese aber in Hölderlins Andenken-Gesängen in semantischer Hinsicht "völlig vergessen" könnten - wir müssen sogar noch feiner und hellhöriger die jeweiligen Gravitäten abwägen -, wohl aber darf die Auseinandersetzung auf dem Schlachtfeld diskursiver Logik nicht den Blick auf etwas Näherliegendes und Entscheidendes verstellen. Denn wenn es sich so verhält, daß die Andenken-Gesänge in ihrem Grundton - wie ja auch in ihrem Grundthema - insonders Pindar verpflichtete Festgesänge und Anabasen sind, [6] dann heißt das zwangsläufig, daß sie auch nur in dieser Tonlage angemessen zu hören und zu verstehen sind.

    Dies schließt aber m. E. eine solche ANDENKEN-Deutung aus, die diesen Gesang im wesentlichen oder gar ausschließlich als eine selbstquälerische "subjektive Zwiesprache" des Dichters mit seinen früheren "traumatischen Bordeaux-Eindrücken" [7] auffaßt. Es verbietet aber auch eine solche MNEMOSYNE-Deutung, die das in diesen Gesängen eigens gedichtete unsterbliche Wesen des herkünftigen Erinnerns derart gründlich mißversteht, als ginge es hier um die "Beerdigung" der Mnemosyne, als handle es sich um einen ruinösen oder gar vom Dichter "nicht mehr ganz bewältigten" Nekrolog auf den Lebensgeist und die Andenken stiftende Poiesis selbst.

    Den außerordentlichen Gehalt, die Weite des Horizontes und tragische Tiefe des poietischen Andenkens gerade dieser späten Andenken-Gesänge hat Martin Heidegger, dieser oder jener philologisch streitbaren Detailauslegung ungeachtet, wohl wie kein anderer erhellt. Diese "Fugen des aber" und "in Feuer getauchten" Dichterworte loten für ihn bisher noch ungeahnte Grenzen des unzerstörbaren Lebensgeistes des Seins auf eine Weise aus, die das Rätsel unseres Daseins gerade nicht verdecken oder gar leugnen. Kommt es von ungefähr, daß wir der Bescheidenheit und Authentizität Hölderlins sogar den unerhörten Schlußvers abnehmen:"Was aber bleibet, stiften die Dichter"?

    Dieser Abschlußvers von ANDENKEN sagt nicht, daß der Dichter dem Sein als Sein allererst noch eine "Wohnung bauen" müßte oder könnte (das wäre in Hölderlins Augen Hybris). Wohl aber "baut" und stiftet die herkünftig andenkende Poiesis unserem Dasein jenes Da des Seins, und, allerdings, insofern auch dem Sein selbst in diesem Dasein ein "Bleibendes". Das Sein selbst wohnt, wie es heißt, je schon "schön", das menschliche "Wohnen" aber, auch darüber hat Heidegger bei Gelegenheit gesprochen, bleibt immer ein "Bauen". Das dichterische Andenken "baut" an der Lichtung des "Da" und der Wahrheit des Unvergeßlichen des Seins. Damit die Himmlischen und "der Höchste", wie es in der dritten Strophe heißt, aber überhaupt "herunterkommen" können, bedarf es eines solchen außerordentlichen Andenkens: "Darum sind jene auch (die "Ströme" als Inbegriff des Seins-Andenkens, Anm. Verf.) / Die Freude des Höchsten. Denn wie käm er / Herunter?..."

    In diesem Sinn deutet Heidegger Hölderlins Worte nur außergewöhnlich sorgfältig und angemessen, wenn er schreibt, daß der Dichter jene "Treppen baut, auf denen die Himmlischen herabsteigen". [8] Diese "Treppe" ist in den Andenken-Gesängen insbesondere auf jener pindarisch-emporschreitenden "Fuge des aber" erbaut. Es ist ein leichtes, dieses, mit einem ganzen Leben verbürgte Wort, daß die Himmlischen die Sterblichen "brauchen", als eine vermeintliche "dichterische Verstiegenheit" abzutun. Es ist etwas ganz anderes, sich, wie Hölderlin, dem Unvergeßlichen, mit und doch auch wieder ohne Scheu, so rückhaltlos zuzuwenden, daß ein Entgegenkommendes allererst in ein "neues Dasein" versetzen kann; in ein Dasein, das vom Ursprung ereignet, allerdings dem allgemeinen Credo der Neuzeit, mit geringstem Aufwand die größte Wirkung zu erzielen, verstörend fremd bleiben muß, da es doch, umgekehrt, nichts mehr erwartet, aber sein Bestes gibt. Heidegger hat davon gewußt.

    Daß die vieldiskutierten "Schiffer" im ANDENKEN-Gesang die Quelle verlassen müssen, um allererst zur Quelle gelangen zu können - auch diese rätselhafte Wahrheit erscheint nach allem nicht mehr als bloßer "Widersinn". Vollends vor dem Hintergrund des im ISTER-Gesang gedichteten Wesens des "in sich gegenströmenden Stroms" (des reinentsprungenen Andenkens, Anm. Verf.) macht sie vielmehr außerordentlich Sinn. In dieser späten Hieroglyphe bündelt sich die Erfahrung, daß das eine vom andern gar nicht zu trennen ist. Sie drückt jene "in sich gefugte" Zirkularität des Seins selbst aus, daß sich alles Dasein seines Seins überhaupt nur deshalb vergegenwärtigen kann, weil und sofern es zuvor bereit war, sich "zu verlassen".

    Ohne diese rätselhafte Fuge von Ausflug und Rückkehr zu sich selbst wäre Sein ein totes. Denn Gegensatz und Verbindung, Lichtung und Verbergung zugleich ist seine eigene Wahrheit. Deshalb ist dieses "Verlassen der Quelle, um die Quelle zu finden" (was die Schiffer der vierten ANDENKEN-Strophe tun) auch gar kein Widerspruch zu der im ISTER-Gesang gedichteten "Ankunft" der Schiffer, denn diese "Fernangekommenen" bleiben als "Bauende" auch zugleich und weiterhin "Ausfahrende".

    Worin anders als im Sein selbst könnte dieses nur im Ausfahren zu sich selbst findende und in diesem Sinn "in sich gegenströmende" poietische Andenken wurzeln? Mit gutem Grund baut Heidegger seine ANDENKEN-Deutung von jenem späten Entwurfs-Vers zur BROD UND WEIN-Hymne her auf - eine Fuge, die das Rätsel nennt, auch dies: "(...) nemlich zu Hauß ist der Geist / Nicht im Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimat. / Kolonie liebt, und tapfer Vergessen der Geist". [9] - Dieses Dichterwort mutet uns die Wahrheit zu, daß der Lebensgeist sein Eigenstes nicht in einem in sich ruhenden, leblosen und vergangenen "Anfang" finden kann, ja mehr noch, daß er gar nicht bei sich selbst "zu Hauß bleiben" will und kann. Vielmehr will und muß er, so hat es zumindest der Dichter erfahren, als creatio continua und stets gegenwärtiger "Vollzug des Ur-Sprungs" immer wieder aufs neue in "Kolonie" und "tapfer Vergessen" seiner selbst springen; er muß sich sozusagen immer aufs neue "in der Welt verlieren", weil er sich nur so, in der ek-stasis seiner selbst, allererst als das Unvergeßliche wiedererinnern und genießen kann: "Ihn zehret die Heimath..."

    Wir alle kennen in dieser oder jener Form die Lebenserfahrung, daß uns erst in der Ferne der wirkliche Wert des Zurückgelassenen und der Herkunft aufgeht. So ergeht es offenbar auch dem ahnenden Lebensgeist überhaupt: "Ihn zehret die Heimat". Dieses "Zehren" ist ein Sich-Verzehren (darin hat die Romantik nicht geirrt), aber doch zugleich, wie Hölderlin ganz unromantisch erfahren und erkannt hat, das Nährende, in dem allererst Inständigkeit zuwachsen kann. Deshalb heißt es hier, daß Leben "Kolonie liebt". Es liebt den Ausstand offenbar so sehr, daß diese Liebe sogar niemals gesättigt wird - oder auch nur - analog zu jenem Bernhard-Wort, das Meister Eckart wiederholt ausgelegt hat, wonach die "gottliebende Seele durch die Liebe nicht gesättigt (wird) , weil Gott diese Liebe ist" [10] - um den Preis des Lebens gesättigt werden dürfte.

    Unsere Ortschaft bleibt Wanderschaft. Das Unvergeßliche vergißt und erinnert sich durch uns hindurch. Hölderlin und Heidegger wußten um diese "in sich gefügte Fuge des aber".
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    Anmerkungen

    (1) Vgl. H. Fränkel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, München 1962, S.487. <<Back to text

    (2) Vgl. ebd., S.500f. und S.526f. <<Back to text

    (3) Der Strophe und Gegenstrophe im gleichen Rhythmus und Aufbau folgt bei Pindar eine hiervon abweichende Epode (aab), längere Gesänge bestehen aus mehreren solcher Triaden (aab,aab...); in freier Variation und leicht abgewandelt begegnet diese Grundstruktur in vielen späten Hymnen, aber auch in den Andenken-Dichtungen Hölderlins wieder: in Andenken ist der Aufbau, unter Auslassung einer Epode: aa- aab; im Ister-Gesang unter Hinzufügung einer Strophe: aaab; der Mnemosyne-Gesang ist rein pindarisch: aab.

    (4) Vgl. Fränkel, a.a.O., S.540. <<Back to text

    (5) Es kommt hinzu, daß die "dé"- bzw. "men...dé"-Konstruktion im Griechischen überhaupt sowohl entgegensetzende ("aber") wie auch verbindende ("und") Bedeutung haben kann bzw. beides zugleich (weshalb in vielen Pindar-Übersetzungen häufig mit einiger Berechtigung mit "und" übertragen wird). Hölderlin aber übersetzt das pindarische "dé" in seinen späten Übertragungen immer mit "aber". Am Beispiel der I.Pythischen Ode (B` 20-25) können wir uns dies verdeutlichen. In Hölderlins Rhythmus und Wortstellung sehr unmittelbar wahrender Übertragung heißt es: "Aus welchem ausgespien werden / Des reinen Feuers heiligste, / Aus Kammern, Quellen; die Flüsse / Aber an den Tagen einen Strom des Rauches glühend, / Aber in Nächten Felsen / Die purpurne gewälzte Flamme / In die Tiefe trägt des Pontus Ebene mit Krachen. / Jenes aber des Hephästos Bäche, das Kriechende, / Gewaltigste, aufsendet (...)" (vgl. StA 5 (64)). Hölderlin überträgt also auch dort stets mit aber, wo das "men...dé" bei Pindar eher verbindet als trennt, das heißt, Hölderlins "griechisches aber" hebt auch immer schon all die semantischen Schattierungen und rhythmischen Gewichtungen - und deren besondere hermeneutische Herausforderungen - in sich auf, die das "men...dé" auch bei Pindar aufweist. <<Back to text

    (6) Geahnt hat diesen Zusammenhang schon Hellingrath, der zu der (in seiner Ausgabe noch eigenständig erscheinenden) "Zeichen-Strophe" des Mnemosyne-Gesanges bemerkt: "Von allen Gedichten Hölderlins am stärksten unter Pindars Einfluß, an Großheit des Rhythmus ihm ebenbürtig (...) hier ist der Gegenstand (des Erinnerns) unter fast allen denkbaren Gesichtspunkten berührt (...)" (vgl. N.v. Hellingrath, Hölderlin, Sämtl.Werke, Bd.4, Komm.). Beißner weist dies im Kommentarteil zu Hölderlins Pindar-Übertragungen zwar unter dem beiläufigen Hinweis auf Hellingraths "fragwürdige Editionspraxis" zurück, doch hat zweifellos Hellingrath den entscheidenden "Grundton" des Mnemosyne-Gesanges "herausgehört". <<Back to text

    (7) Dies ist etwa bei der in mancher Hinsicht erhellenden Arbeit von D. Henrich Der Gang des Andenkens (Stuttgart 1986) der Fall, die weniger mit ihrer etwas vordergründigen Polemik gegen Heideggers tiefgründende Zwiesprache mit Hölderlins Andenken, als vielmehr durch die Einsicht überzeugt, daß Hölderlins Dichtung immer schon im Binnenraum des Vollzugs des Erinnerns entsteht und mithin angemessen auch immer nur in einem Mitvollzug dieses Erinnerungshorizontes zu erfahren ist. Leider versteht Henrich diesen Horizont häufig allzu eng; er geht im Grunde von einem völlig unzureichenden, empirisch verstandenen "präzisen Rückerinnern" meist geographischer Ortschaften aus, so daß die entscheidende Dimension jenes poietischen Andenkens gar nicht in den Blick gerät (vgl. dazu auch M.H., Erläuterungen, a.a.O., S.83, S.101, S.115). <<Back to text

    (8) Vgl. M.H., Hölderlins Hymne "Der Ister", a.a.O., S.194ff.; vgl.dazu auch M.H., Beiträge zur Philosophie - Vom Ereignis, Frankfurt am Main 1989., S.16-19. <<Back to text

    (9) Vgl. M.H., Erläuterungen, a.a.O., S.91f. <<Back to text

    (10) Vgl. D. Mieth, Meister Eckart, Einheit von Sein und Wirken, München/Zürich 1989, S.237f. ("Qui edunt me, adhuc esurint", zu Sir.24,29 [neue Zähl.: 24,21]). <<Back to text


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