|
-
Rafael
Capurro schreibt in einer Abwandlung von Bishop Berkeleys Spruch: "esse
est computari". Das Sein trägt heute ein digitales Gewand. Alles was
ist, läßt sich in binärem Code darstellen. Ein Seiendes
heute sieht folgendermaßen aus: 0000011001100010, ein Code, der sich
in beliebige Medien einprägen läßt.
-
Jedes Seiende läßt sich binär
darstellen und als diese digitale Darstellung beliebig abrufen. Binär
steht das Seiende zur Stelle im Weltbestand. Raum und Zeit verorten das
Seiende nicht mehr; als beliebig reproduzierbarer, elektromagnetischer
Code hat sich das digital Seiende der Zeit sowie dem Raum entzogen.
-
Jedes Seiende steht nicht nur als Byte des
digitalen Bestands abrufbereit zur Stelle, sondern läuft in grenzenloser
Verbreitung durch die digitalen Netzwerke. Die Weise des Zur-Stelle-stehens
des digital Seienden ist sein ständiges Laufen in der Netzwerkverbreitung.
Jedes digital Seiende muß sich verbreiten, um zu sein. Es wohnt dem
digital Seienden der Drang zur Verbreitung und Vervielfältigung inne.
-
Das digital Seiende ist virtuell. "Virtual"
- mit "virtu" verwandt - kann bedeuten: "that is so in essence or effect,
although not formally or actually; admitting of being called by the name
so far as the effect or result is concerned" (OED). Virtuality (=Wirklichkeit
auf Deutsch) ist "Essential nature or being; apart from external form or
embodiment." (OED)
Virtuality ist Wirklichkeit, ist die Wirklichkeit
des Wesens, die auf den wesentlichen binären Code reduziert ist (wie
ein zusammengekochter sugo). Dies heißt: das Seiende ist nichts anderes
als sein binärer Wesenscode und läßt sich beliebig in Bezug
auf Raum und Zeit in die Materie einprägen. Die Platonische Idee hat
sich als Virtualität verwirklicht, denn die 'ewigen' Anblicke und
Umrisse des Seienden sind zu speicherbarem binärem Code geworden.
Die Materie ist dabei beliebig geworden; von ihr wird nur noch grenzenlose
Aufnahmebereitschaft verlangt: glatte Magnetbänder, glatte laserbeschreibbare
CD-Flächen, glatte digital aufsaugfähige Festplatten etc.
-
Auf die virtuelle Wesenswirklichkeit des binären
Codes reduziert kursieren die Seinsumrisse überschwemmungsartig durch
die Netze. Angesichts dieser entgrenzten digitalen Verfaßtheit des
Seienden läßt sich fragen: Wie ist Informationsarmut überhaupt
möglich?
-
Einiges unter den digital Seienden nennt sich
Geld, womit es die besondere Bewandtnis hat, daß es sich vermehrend,
und d.h. sich verwertend, kursiert. In Kreisläufen kursierend vermehren
sich die Geldziffern. Als diese kreislaufenden Ziffern nennt sich das Geld
Kapital: eine Hauptsumme drängt nach Selbstverwertung, kursiert und
akkumuliert sich immer mehr. Damit das Kapital sich vermehren kann, muß
das übrige digital Seiende ihm Tribut zollen. Das Geld beansprucht
die Stelle des "allgemeinen Äquivalents" (Karl Marx, Das Kapital
Band I), durch das jedes übrige Seiende hindurchgehen muß und
in Bezug auf das jedes Seiende immer schon steht. Nur durch die Verquickung
der digitalen Kapitalkreisläufe mit dem Kursieren des übrigen
Seienden läßt sich der digitale Weltlauf aufrechterhalten.
-
6a. Das Paradigma für die Verquickung
von digitalem Gehalt mit Kapitalkreisläufen sind die realtime Börsenkurse
von Reuters, brandaktuell abrufbar gegen teure Gelddigits. Hier wird dem
Problem der Entwertung des digital Seienden durch seine beliebige Reproduzierbarkeit
dadurch entgangen, daß die Börsenkurse sich von Minute zu Minute
ändern und damit von Minute zu Minute neu verkauft werden können.
-
6b. Nur die Digits in einem Kapitalkreislauf
sind.
Dies zeigt sich z.B. im Sport. Das im Stadium gespielte Fußballspiel
ist
nicht. Das Spiel selbst wird umgewandelt, damit es digital verwertbar wird.
Das Spiel in der Fußballmeisterschaft z.B. ist nichts anderes
als die Pixels, die über den Bildschirm flitzen. Und diese Pixels
müssen zudem gewinnbringend flitzen, d.h. das Spiel selbst (wie es
gespielt wird, wie lange, wer mit wem etc.) wird vom pay-TV und den Werbemöglichkeiten
gestaltet.
-
Wo die Verquickung von digitalem Informationsgehalt
mit Kapitalkreisläufen sich nicht realisieren läßt, läßt
sich dennoch die digitale Welt als solche verkaufen: Das teledigitale Medium
selbst ist die Ware schlechthin, die die Welt selbst käuflich macht.
Der Zugang sowie der Aufenthalt in der digitalen Welt ist nur gegen Zahlung
zu haben. Die Welt als Mannigfaltigkeit von Verweisungszusammenhängen
ist zu einer den Globus umspannenden Ganzheit von verknüpften Netzverbindungen
geworden, in der jeder Ort der gleiche Ort ist: der Bildschirm vor mir
ist die ganze Welt.[1]
Das Internet bringt den Raum der Welt zum Kollaps.
-
Da sich das digital Seiende speichern und
beliebig abrufen läßt, drängt sich das eine digital Seiende
in die Anwesenheit nur durch die Verdrängung der anderen digital Seienden,
d.h. jedes digital Seiende, da auf der Stelle abrufbar, ist zugleich immer
schon entwertet. Nur das aktuellste Seiende gilt als Seiendes; dadurch
hat sich jedoch jedes Seiende immer schon entwertet, d.h. es muß
als nicht mehr aktuell seinen Platz in der Anwesenheit abtreten.
-
Wer ist der Mensch im digitalen Weltentwurf?
Er ist Informationsabnehmer: eine Prägemasse für die Formen der
In-Formationen. Das digital Seiende west an zur Aufnahme durch die Prägemasse
Mensch, der selber Ortsansässiger für die Anwesung von ständig
wechselndem digital Seienden geworden ist. Der Mensch als herausgestellt
in die Lichtung für die Anwesung von Anwesendem ist dem überfließenden
Fluß des digital Seienden ausgeliefert. Das digital Seiende hat sich
auf den binären Umriß reduziert, der sich jedoch als Seiendes
im Da des Menschen erkennen läßt. Der Riß, die Ritze,
der Unterschied schlechthin war immer schon die Differenz, die den Menschen
ins Sein gerufen hat. Nun ist der heutige Mensch dem Schicksal ausgeliefert,
die kollabierte Welt des uferlosen digital Seienden aufnehmen zu müssen.
-
9a. Die eigentümliche Verquickung von
digital Seiendem und Kapitalkreisläufen bedeutet, daß der Mensch,
um seinen Platz in der Konkurrenz behalten zu können, sich tretmühlenartig
auf dem Laufenden des unendlichen, kreislaufenden Stroms des digital Seienden
halten muß. Das Kreislaufen des digital Seienden führt dazu,
daß der Mensch mehr denn je keine Zeit mehr hat.
-
Seiendes im Überfluß. Dies war
seit eh und je das Schicksal des abendländischen Menschen, angefangen
mit dem griechischen technites: die Hervorbringung von Seiendem.
Heute ist der Überfluß mehr denn je da, selbst wenn Hunderte
von Millionen Menschen auf dem Erdball heute noch hungern - es handelt
sich hier nämlich nicht um eine empirische Feststellung, sondern um
einen metaphysischen Seinsentwurf. Der Fluß des digital Seienden
ist dabei - durchs Kapital gesteuert - die planetarische Menschheit als
Prägemasse in sich aufzunehmen. Da das digital Seiende zur ständig
sich verbreitenden Aufnahme drängt, und die Aufnahmemasse aus der
planetarischen Menschheit besteht, wird sich das Thema Informationsarmut
von selbst erledigen. Wo früher der Mensch vorwiegend als Arbeitskraft
Material für das Kapital war, ist heute der Mensch eher als Prägemasse
durch den - immer noch durch das Kapital dirigierten - digitalen Überfluß
bestellt und gestellt.
-
10a. Die Informationen sind nicht für
die Menschen da, sondern die Menschen sind im Da zur Aufnahme der Informationen.
Die Informationstechnologien sind nicht da, damit die Menschen miteinander
kommunizieren, sondern sie sind im Da, damit die Informationen kursieren
können.
-
10b. Der Mensch ist ein mitseiendes Wesen,
er gehört immer schon - selbst in der einsamsten Einsamkeit - der
Mitwelt. Der Mensch ist auch sich selbst. Selbstsein und Mitsein sind so
sehr das Selbe, daß der Mensch im Mitsein immer einsam und allein
immer bei anderen ist. Das teletechnische Mitsein der Menschen ist keine
Perversion eines echten oder eigentlichen Zusammenseins in körperlicher
Nähe. Da das Menschenwesen zur Welt hin transzendent ist, ist der
Mensch immer schon überall, d.h. Welt west dem Menschenwesen auf verschiedene
Weisen an: leibhaft und digital, gegenwärtig, ankünftig, gewesend.
Die sog. Telekommunikation ist nur möglich, weil der Mensch immer
schon überall im Da ist.
-
Die Frage heute ist: Wie entkommt der Mensch
als digitale Prägemasse dem Über-Fluß des digital Seienden?
Wie gelangt der Mensch in die Armut der Stille? Wie hält der Mensch
angesichts des ständigen digitalen Bombardements die Elastizität
und die Aufnahmefähigkeit seines Da aufrecht? Der Mensch braucht vom
Überfluß des kursierenden digital Seienden Abstand. Wie schafft
man sich Abstand? Indem man sich weigert, seinen PC anzuschalten? Nein,
nicht unbedingt, sondern indem der Mensch denkt und fragt, wer er selbst
in der Welt ist.
|